ST. SEVERIN

Pastorin Susanne Zingel, 7. Sonntag nach Trinitatis, 23.07.2023

Steh auf, nimm dein Bett und geh! (Markus Evangelium 2,1-12)

Gnade sei mit euch und Friede von dem, der da ist und der da kommt und der da war. Amen

Mein erster richtiger Job führte mich Anfang der 90er auf die wunderschöne Insel Amrum. Mindestens genau so schön wie Sylt, nur ein wenig anders. Für mich war es das Paradies – ich blieb 5 Jahre. In die Kinderfachklinik Satteldüne kamen alle 6 Wochen Kinder und Jugendliche im Alter von 8 bis 18 Jahren, um sich im milden und gesunden Nordseeklima zu erholen. Die Bandbreite ihrer Beschwerden reichte von Infektanfälligkeit über Neurodermitis und Asthma bis hin zu schweren Immunkrankheiten. Als ich Tommy kennenlernte, einen fröhlicher blonder 13jähriger mit stahlblauen Augen, kam ich das erste Mal in Berührung mit Mukoviszidose. Diese Krankheit ist eine Erbkrankheit, bei der vor allem die Lunge und die Verdauungsorgane dauerhaft geschädigt werden. Heute sind die therapeutischen Möglichkeiten weit fortgeschritten, in der Zeit, von der ich erzähle, waren die Prognosen wesentlich schlechter. Heilbar ist die Krankheit nach wie vor nicht. Bei Tommy wurde die Krankheit mit drei Jahren diagnostiziert, jedes Jahr, seit er 8 war, kommt er für mindestens 6 Wochen, meist noch länger nach Amrum – das erzählte er mir fröhlich gleich in den ersten Tagen. Er ist so fröhlich, unbeschwert – wie ein ganz normaler 13jähriger. Und dabei hat er ein riesiges Paket auf seinen jungen Schultern. Mit seinem enormen Therapiepensum und Terminen von 8 bis 8 ist er so gewissenhaft, dass er damit die ganze Station ansteckte, die Jungs mit Asthma, die Neurodermitis Patienten, alle schnitten sich bei ihm eine Scheibe ab. In kürzester Zeit scharte er eine große Freundesschar um sich, die ihn bewunderte, ehrlich bewunderte …und aus dieser Energie, die er versprühte für sich selbst Energie zog… und so etwas wie einen neuen Glauben an sich selbst, einen neuen Umgang mit ihrer eigenen Krankheit findet. In den ersten Tagen jeder beginnenden Kur sind es 3-5 Freunde, nach maximal 2 Wochen zieht fast die ganze Station hinter ihm her.
Und nach einigen Tagen ging Jesus wieder nach Kapernaum; und es wurde bekannt, dass er im Hause war. Und es versammelten sich viele, so dass sie nicht Raum hatten, auch nicht draußen vor der Tür; und er sagte ihnen das Wort.
Ich erinnere mich noch genau, dass ich Tommy mal fragte: „…sag wie machst du das, wie schaffst du das, bei all dem, was du trägst, so fröhlich und so positiv zu bleiben, ja selbst noch andere damit zu motivieren und anzutreiben?“ – er antwortete (und seine blauen Augen strahlten…) „ich bin dem Tod im letzten Jahr von der Schippe gesprungen – jetzt weiß er, dass er mich nicht so leicht kriegt. Und hier auf Amrum geht’s mir einfach immer suuuuper!“ Da war es wieder, mein Paradies…
Aus seiner Patientenakte erfuhr ich, dass sein Krankheits-Verlauf in der frühen Kindheit eigentlich relativ harmlos war. Im Alter von 14 Jahren ist eine Zyste an der Bauchspeicheldrüse festgestellt worden, die sogleich entfernt wurde. Die Operation hat etliche Komplikationen mit sich gebracht, Tommy musste ein zweites und ein drittes Mal operiert werden. Und danach war nichts mehr wie vorher: Der Darm kam nicht mehr in Gang, Tommy lag sieben Wochen auf der Intensivstation. Den eh schon schmalen 49 Kilogramm nahm die Krankheit noch einmal 10 ab. Und dennoch – sein fröhlicher Lebenswille schien nicht gebrochen und half ihm nach oben, half ihm da raus. Nach einer erneuten OP ging es wieder aufwärts.

Als ich Tommy kennenlernte lag das alles ein halbes Jahr zurück.
Und es kamen einige zu ihm, die brachten einen Gelähmten, von vieren getragen. Und da sie ihn nicht zu ihm bringen konnten wegen der Menge, deckten sie das Dach auf, wo er war, machten ein Loch und ließen das Bett herunter, auf dem der Gelähmte lag.
Ich bin dem Tod im letzten Jahr von der Schippe gesprungen… weit gefehlt: Ich durfte Tommy noch in weiteren drei Kuraufenthalten auf Amrum betreuen. Und ich gebe zu, er war mein Lieblingspatient. Dabei ist es eigentlich richtiger zu sagen, immer wenn er da war, war es meine Lieblingsgruppe. Wie die vier bei Markus: Sie sind an seiner Seite. Sie nutzen jede Chance, Glück zu finden. Das war herrlich zu sehen – die Mühe, die sie sich machten, ihre Termine miteinander zu matchen, einen Anhänger für die Radtour zu organisieren, damit er mit Rollstuhl mitfahren kann, ihn zur Therapie, zum Arzt zu bringen, den geplanten Spaziergang am Strand mit viel Verhandlungsgeschick in einen Spaziergang über die Bohlenwege zu wandeln, damit Tommy mitkonnte – sie hätten auch ein Dach abgedeckt, mühelos.
Im folgenden Herbst/Winter bekam Tommy zwei schwere Lungenentzündungen. Das Lungengewebe war danach so geschädigt, dass er mit 15 Jahren nicht mehr allein laufen konnte. Seine Sauerstoffsättigung war so stark beeinträchtigt, dass er ständig Sauerstoff benötigte. Er konnte ohne Sauerstoff nicht mal mehr duschen gehen. Wieder auf Amrum erholt er sich, doch in diesem Jahr war etwas anders: Noch stärker als sonst flammen die Freundesbande auf. Obwohl sich immer alle neu kennenlernten, war das Band zwischen den Jungs samt Tommy so stark, als würden sie sich schon ewig kennen…
In diesem Kuraufenthalt kommt er auf die Liste für eine Lungen- und Herztransplantation, weil man davon ausgehen musste, dass der Verlauf seiner Krankheit unumkehrbar war. Vier Jahre durfte ich Tommy für eine bestimmte Zeit des Jahres betreuen und begleiten. Ein Gedanke ist mir immer geblieben: In jedem Aufenthalt waren es andere Menschen, andere Jungs mit ihren eigenen Geschichten, mit ihren eigenen Fragen, jedes Mal wurden sie zu Freuden, zu echten Freunden – dieses Band hat den jeweils anderen mit Zuversicht angesteckt, sie haben gemeinsame Träume und Visionen entwickelt, sich nicht entmutigen lassen, nicht aufgeben, nichts unversucht gelassen. Glaube versetzt Berge – so sagt man doch. In jedem Fall lässt er Menschen nicht allein. Die Freunde sind immer voller Hoffnung. Sie geben den einen nicht auf, auch wenn der Lebensfaden scheinbar zu Ende gesponnen ist.
Als nun Jesus ihren Glauben sah, sprach er zu dem Gelähmten: Mein Sohn, deine Sünden sind dir vergeben… und er- sprach zu dem Gelähmten: Ich sage dir, steh auf, nimm dein Bett und geh heim!
In der Erzählung von Markus sagt der Gelähmte kein Wort. Auch Tommy hat nie geklagt. Er bat um nichts – weder seine Freunde noch die Ärzte. Ich habe in den Jahren auf Amrum viele junge Menschen mit schweren Schicksalen kennengelernt und eine Frage stand nicht nur einmal im Raum: Bin ich selbst schuld? Hätte ich irgendetwas anders machen können? Die Frage nach Schuld führt in eine Sackgasse. Jesus selber wurde einmal angesichts eines blind geborenen Mannes gefragt: Wer hat gesündigt? Dieser oder seine Eltern? Und Jesus antwortet: Keiner hat gesündigt. Wenn Jesus diesem Gelähmten als erstes die Sünden vergibt, dann nicht, weil er denkt, der Kranke sei selbst schuld an seiner Krankheit. Jesus nimmt diesen Menschen an, wie er ist. Und sieht mehr und tiefer als nur die Krankheit. Jesus spricht ihm zu: Du bist und bleibst Gottes geliebtes Kind. Du darfst sein, wie du bist. Was dich von Gott getrennt hat, ist vergeben. Jesus weckt das Vertrauen des Gelähmten: seine Beziehung zu Gott heilt.
Die Freunde wissen es längst, hätten sie sonst diese Mühen auf sich genommen? Glauben meint: Bei Gott ist eine Tür offen. Immer. Ohne Vorbedingungen. Du kannst aufatmen. Und sogar: aufstehen. Nichts kann dir deine Zukunft mit Gott verbauen. Was immer dir schlaflose Nächte bereitet, woran auch immer du meinst, schuldig geworden zu sein: Dir ist vergeben.
Und er stand auf, nahm sein Bett und ging alsbald hinaus vor aller Augen, so dass sie sich alle entsetzten und Gott priesen und sprachen: Wir haben so etwas noch nie gesehen.
„Nimm dein Bett und geh!“ Das ist Auftrag und Geschenk gleichermaßen! Wie die Prognose des Klinikarztes – und so viel mehr: Morgen wieder aufstehen. Morgen wieder laufen. Morgen wieder atmen. Es gibt jetzt nichts mehr, was dich von Gott trennt. An der Geschichte von der Heilung des Gelähmten ist mir eins besonders aufgefallen: „sekofite anastiste“ (σηκωθείτε) – dieses griechische Wort bedeutet ebenso aufstehen und auf-er-stehen. Diese Heilungsgeschichte ist gleichsam eine Auferstehungs-, eine Ostergeschichte. Es wird immer wieder Dinge im Leben geben, die uns lähmen. Da wünsche ich uns die Kraft dieser österlichen Geschichte: Dass Freunde da sind, die an mich glauben und mich halten, dass sich lösen kann, was mich ängstigt; dass ich immer wieder frei werde und neu anfangen kann. Dass ich auf-stehen und auf-er-stehen kann. „sekofite anastiste“
Der Wunsch, verschont zu bleiben, taugt nicht – sagt Hilde Domin in ihrem Gedicht „Bitte“. Aber, sagt sie: Es taugt die Bitte (…), dass wir aus der Flut, dass wir aus der Löwengrube und dem feurigen Ofen immer versehrter und immer heiler stets von neuem zu uns selbst entlassen werden.
Heil werden und heil bleiben – trotz aller Krankheiten, Verletzungen, Lebensbrüche. Heil werden – nicht, damit alles wieder gut ist. Auferstehen kann ich auch – als versehrter Mensch mit den Narben und Wunden meines Lebens. Auferstehen – und zu mir selbst entlassen werden. Aus Löwengruben meiner Ängste, wenn ich an die Kriege, an Krankheiten, an Seelenverletzungen denke. Aus dem feurigen Ofen einer Erde, die unter der Hitze ächzt. Aus der Flut von Dingen, die uns lähmen.
Was ist eigentlich das Gegenteil von gelähmt?
Tommy wurde 17 und ein halbes Jahr alt, er hat den Weg auf der Warteliste bis zur Transplantation nicht geschafft. Auf seiner Beerdigung waren fast 500 Menschen, weit über die Hälfte so jung wie er. Die Feier war voller Farben, voller Musik, voller Bilder, in allem – nein eigentlich über allem – strahlte der fröhliche Blondschopf mit den stahlblauen Augen. Viele kamen zu Wort, viele Freunde erzählten von ihren Begegnungen mit diesem so besonderen Menschen. Wenn ich so daran zurückdenke, kann ich all ihre Worte in einem Satz zusammenfassen: ER WAR DAS BESTE, WAS UNS BISHER IN UNSEREM LEBEN PASSIERT IST! Das (!) ist das Gegenteil von gelähmt: Gelassen sein, beweglich, lebendig, frei, fröhlich sein – als Mensch zu Helfenden werden, die Not Anderer wandeln.
Das Logo der Mukoviszidose-Hilfe sind Flügel. Flügel mit einer Doppelbedeutung: Zu einem sind sie ein Symbol für die Lungenflügel und stehen für „atmen können“, „Luft bekommen“ und „Leben“. Und sie sind ein Symbol für Schutzengel. Schutzengel, die Menschen mit Mukoviszidose auf verschiedenste Art und Weise unterstützen: Bitte nicht verbittern, nicht erzittern, nicht erschrecken, sich nicht verbrauchen lassen, sich nicht lähmen lassen. Nicht noch gelähmter werden, als wir manchmal schon sind. Das brauchen wir in diesen Zeiten. Und dass wir immer wieder ganz tief im Herzen hören: Euch ist vergeben. Gott geht deine Wege mit…
Und dieser Friede Gottes, der höher ist als all unsere Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus.

Amen

Ev.-luth. Kirchengemeinde St. Severin
Pröstwai 20 • 25980 Sylt/Keitum
Telefon 04651/31713 • Fax 04651/35585 • kirchenbuero@st-severin.de

Pastorin Susanne Zingel, 7. Sonntag nach Trinitatis, 23.07.2023

Steh auf, nimm dein Bett und geh! (Markus Evangelium 2,1-12)

Gnade sei mit euch und Friede von dem, der da ist und der da kommt und der da war. Amen

Mein erster richtiger Job führte mich Anfang der 90er auf die wunderschöne Insel Amrum. Mindestens genau so schön wie Sylt, nur ein wenig anders. Für mich war es das Paradies – ich blieb 5 Jahre. In die Kinderfachklinik Satteldüne kamen alle 6 Wochen Kinder und Jugendliche im Alter von 8 bis 18 Jahren, um sich im milden und gesunden Nordseeklima zu erholen. Die Bandbreite ihrer Beschwerden reichte von Infektanfälligkeit über Neurodermitis und Asthma bis hin zu schweren Immunkrankheiten. Als ich Tommy kennenlernte, einen fröhlicher blonder 13jähriger mit stahlblauen Augen, kam ich das erste Mal in Berührung mit Mukoviszidose. Diese Krankheit ist eine Erbkrankheit, bei der vor allem die Lunge und die Verdauungsorgane dauerhaft geschädigt werden. Heute sind die therapeutischen Möglichkeiten weit fortgeschritten, in der Zeit, von der ich erzähle, waren die Prognosen wesentlich schlechter. Heilbar ist die Krankheit nach wie vor nicht. Bei Tommy wurde die Krankheit mit drei Jahren diagnostiziert, jedes Jahr, seit er 8 war, kommt er für mindestens 6 Wochen, meist noch länger nach Amrum – das erzählte er mir fröhlich gleich in den ersten Tagen. Er ist so fröhlich, unbeschwert – wie ein ganz normaler 13jähriger. Und dabei hat er ein riesiges Paket auf seinen jungen Schultern. Mit seinem enormen Therapiepensum und Terminen von 8 bis 8 ist er so gewissenhaft, dass er damit die ganze Station ansteckte, die Jungs mit Asthma, die Neurodermitis Patienten, alle schnitten sich bei ihm eine Scheibe ab. In kürzester Zeit scharte er eine große Freundesschar um sich, die ihn bewunderte, ehrlich bewunderte …und aus dieser Energie, die er versprühte für sich selbst Energie zog… und so etwas wie einen neuen Glauben an sich selbst, einen neuen Umgang mit ihrer eigenen Krankheit findet. In den ersten Tagen jeder beginnenden Kur sind es 3-5 Freunde, nach maximal 2 Wochen zieht fast die ganze Station hinter ihm her.
Und nach einigen Tagen ging Jesus wieder nach Kapernaum; und es wurde bekannt, dass er im Hause war. Und es versammelten sich viele, so dass sie nicht Raum hatten, auch nicht draußen vor der Tür; und er sagte ihnen das Wort.
Ich erinnere mich noch genau, dass ich Tommy mal fragte: „…sag wie machst du das, wie schaffst du das, bei all dem, was du trägst, so fröhlich und so positiv zu bleiben, ja selbst noch andere damit zu motivieren und anzutreiben?“ – er antwortete (und seine blauen Augen strahlten…) „ich bin dem Tod im letzten Jahr von der Schippe gesprungen – jetzt weiß er, dass er mich nicht so leicht kriegt. Und hier auf Amrum geht’s mir einfach immer suuuuper!“ Da war es wieder, mein Paradies…
Aus seiner Patientenakte erfuhr ich, dass sein Krankheits-Verlauf in der frühen Kindheit eigentlich relativ harmlos war. Im Alter von 14 Jahren ist eine Zyste an der Bauchspeicheldrüse festgestellt worden, die sogleich entfernt wurde. Die Operation hat etliche Komplikationen mit sich gebracht, Tommy musste ein zweites und ein drittes Mal operiert werden. Und danach war nichts mehr wie vorher: Der Darm kam nicht mehr in Gang, Tommy lag sieben Wochen auf der Intensivstation. Den eh schon schmalen 49 Kilogramm nahm die Krankheit noch einmal 10 ab. Und dennoch – sein fröhlicher Lebenswille schien nicht gebrochen und half ihm nach oben, half ihm da raus. Nach einer erneuten OP ging es wieder aufwärts.

Als ich Tommy kennenlernte lag das alles ein halbes Jahr zurück.
Und es kamen einige zu ihm, die brachten einen Gelähmten, von vieren getragen. Und da sie ihn nicht zu ihm bringen konnten wegen der Menge, deckten sie das Dach auf, wo er war, machten ein Loch und ließen das Bett herunter, auf dem der Gelähmte lag.
Ich bin dem Tod im letzten Jahr von der Schippe gesprungen… weit gefehlt: Ich durfte Tommy noch in weiteren drei Kuraufenthalten auf Amrum betreuen. Und ich gebe zu, er war mein Lieblingspatient. Dabei ist es eigentlich richtiger zu sagen, immer wenn er da war, war es meine Lieblingsgruppe. Wie die vier bei Markus: Sie sind an seiner Seite. Sie nutzen jede Chance, Glück zu finden. Das war herrlich zu sehen – die Mühe, die sie sich machten, ihre Termine miteinander zu matchen, einen Anhänger für die Radtour zu organisieren, damit er mit Rollstuhl mitfahren kann, ihn zur Therapie, zum Arzt zu bringen, den geplanten Spaziergang am Strand mit viel Verhandlungsgeschick in einen Spaziergang über die Bohlenwege zu wandeln, damit Tommy mitkonnte – sie hätten auch ein Dach abgedeckt, mühelos.
Im folgenden Herbst/Winter bekam Tommy zwei schwere Lungenentzündungen. Das Lungengewebe war danach so geschädigt, dass er mit 15 Jahren nicht mehr allein laufen konnte. Seine Sauerstoffsättigung war so stark beeinträchtigt, dass er ständig Sauerstoff benötigte. Er konnte ohne Sauerstoff nicht mal mehr duschen gehen. Wieder auf Amrum erholt er sich, doch in diesem Jahr war etwas anders: Noch stärker als sonst flammen die Freundesbande auf. Obwohl sich immer alle neu kennenlernten, war das Band zwischen den Jungs samt Tommy so stark, als würden sie sich schon ewig kennen…
In diesem Kuraufenthalt kommt er auf die Liste für eine Lungen- und Herztransplantation, weil man davon ausgehen musste, dass der Verlauf seiner Krankheit unumkehrbar war. Vier Jahre durfte ich Tommy für eine bestimmte Zeit des Jahres betreuen und begleiten. Ein Gedanke ist mir immer geblieben: In jedem Aufenthalt waren es andere Menschen, andere Jungs mit ihren eigenen Geschichten, mit ihren eigenen Fragen, jedes Mal wurden sie zu Freuden, zu echten Freunden – dieses Band hat den jeweils anderen mit Zuversicht angesteckt, sie haben gemeinsame Träume und Visionen entwickelt, sich nicht entmutigen lassen, nicht aufgeben, nichts unversucht gelassen. Glaube versetzt Berge – so sagt man doch. In jedem Fall lässt er Menschen nicht allein. Die Freunde sind immer voller Hoffnung. Sie geben den einen nicht auf, auch wenn der Lebensfaden scheinbar zu Ende gesponnen ist.
Als nun Jesus ihren Glauben sah, sprach er zu dem Gelähmten: Mein Sohn, deine Sünden sind dir vergeben… und er- sprach zu dem Gelähmten: Ich sage dir, steh auf, nimm dein Bett und geh heim!
In der Erzählung von Markus sagt der Gelähmte kein Wort. Auch Tommy hat nie geklagt. Er bat um nichts – weder seine Freunde noch die Ärzte. Ich habe in den Jahren auf Amrum viele junge Menschen mit schweren Schicksalen kennengelernt und eine Frage stand nicht nur einmal im Raum: Bin ich selbst schuld? Hätte ich irgendetwas anders machen können? Die Frage nach Schuld führt in eine Sackgasse. Jesus selber wurde einmal angesichts eines blind geborenen Mannes gefragt: Wer hat gesündigt? Dieser oder seine Eltern? Und Jesus antwortet: Keiner hat gesündigt. Wenn Jesus diesem Gelähmten als erstes die Sünden vergibt, dann nicht, weil er denkt, der Kranke sei selbst schuld an seiner Krankheit. Jesus nimmt diesen Menschen an, wie er ist. Und sieht mehr und tiefer als nur die Krankheit. Jesus spricht ihm zu: Du bist und bleibst Gottes geliebtes Kind. Du darfst sein, wie du bist. Was dich von Gott getrennt hat, ist vergeben. Jesus weckt das Vertrauen des Gelähmten: seine Beziehung zu Gott heilt.
Die Freunde wissen es längst, hätten sie sonst diese Mühen auf sich genommen? Glauben meint: Bei Gott ist eine Tür offen. Immer. Ohne Vorbedingungen. Du kannst aufatmen. Und sogar: aufstehen. Nichts kann dir deine Zukunft mit Gott verbauen. Was immer dir schlaflose Nächte bereitet, woran auch immer du meinst, schuldig geworden zu sein: Dir ist vergeben.
Und er stand auf, nahm sein Bett und ging alsbald hinaus vor aller Augen, so dass sie sich alle entsetzten und Gott priesen und sprachen: Wir haben so etwas noch nie gesehen.
„Nimm dein Bett und geh!“ Das ist Auftrag und Geschenk gleichermaßen! Wie die Prognose des Klinikarztes – und so viel mehr: Morgen wieder aufstehen. Morgen wieder laufen. Morgen wieder atmen. Es gibt jetzt nichts mehr, was dich von Gott trennt. An der Geschichte von der Heilung des Gelähmten ist mir eins besonders aufgefallen: „sekofite anastiste“ (σηκωθείτε) – dieses griechische Wort bedeutet ebenso aufstehen und auf-er-stehen. Diese Heilungsgeschichte ist gleichsam eine Auferstehungs-, eine Ostergeschichte. Es wird immer wieder Dinge im Leben geben, die uns lähmen. Da wünsche ich uns die Kraft dieser österlichen Geschichte: Dass Freunde da sind, die an mich glauben und mich halten, dass sich lösen kann, was mich ängstigt; dass ich immer wieder frei werde und neu anfangen kann. Dass ich auf-stehen und auf-er-stehen kann. „sekofite anastiste“
Der Wunsch, verschont zu bleiben, taugt nicht – sagt Hilde Domin in ihrem Gedicht „Bitte“. Aber, sagt sie: Es taugt die Bitte (…), dass wir aus der Flut, dass wir aus der Löwengrube und dem feurigen Ofen immer versehrter und immer heiler stets von neuem zu uns selbst entlassen werden.
Heil werden und heil bleiben – trotz aller Krankheiten, Verletzungen, Lebensbrüche. Heil werden – nicht, damit alles wieder gut ist. Auferstehen kann ich auch – als versehrter Mensch mit den Narben und Wunden meines Lebens. Auferstehen – und zu mir selbst entlassen werden. Aus Löwengruben meiner Ängste, wenn ich an die Kriege, an Krankheiten, an Seelenverletzungen denke. Aus dem feurigen Ofen einer Erde, die unter der Hitze ächzt. Aus der Flut von Dingen, die uns lähmen.
Was ist eigentlich das Gegenteil von gelähmt?
Tommy wurde 17 und ein halbes Jahr alt, er hat den Weg auf der Warteliste bis zur Transplantation nicht geschafft. Auf seiner Beerdigung waren fast 500 Menschen, weit über die Hälfte so jung wie er. Die Feier war voller Farben, voller Musik, voller Bilder, in allem – nein eigentlich über allem – strahlte der fröhliche Blondschopf mit den stahlblauen Augen. Viele kamen zu Wort, viele Freunde erzählten von ihren Begegnungen mit diesem so besonderen Menschen. Wenn ich so daran zurückdenke, kann ich all ihre Worte in einem Satz zusammenfassen: ER WAR DAS BESTE, WAS UNS BISHER IN UNSEREM LEBEN PASSIERT IST! Das (!) ist das Gegenteil von gelähmt: Gelassen sein, beweglich, lebendig, frei, fröhlich sein – als Mensch zu Helfenden werden, die Not Anderer wandeln.
Das Logo der Mukoviszidose-Hilfe sind Flügel. Flügel mit einer Doppelbedeutung: Zu einem sind sie ein Symbol für die Lungenflügel und stehen für „atmen können“, „Luft bekommen“ und „Leben“. Und sie sind ein Symbol für Schutzengel. Schutzengel, die Menschen mit Mukoviszidose auf verschiedenste Art und Weise unterstützen: Bitte nicht verbittern, nicht erzittern, nicht erschrecken, sich nicht verbrauchen lassen, sich nicht lähmen lassen. Nicht noch gelähmter werden, als wir manchmal schon sind. Das brauchen wir in diesen Zeiten. Und dass wir immer wieder ganz tief im Herzen hören: Euch ist vergeben. Gott geht deine Wege mit…
Und dieser Friede Gottes, der höher ist als all unsere Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus.

Amen

Ev.-luth. Kirchengemeinde St. Severin
Pröstwai 20 • 25980 Sylt/Keitum
Telefon 04651/31713 • Fax 04651/35585 • kirchenbuero@st-severin.de