Predigttext: 2. Mose 34, 4-10: Und Mose hieb zwei steinerne Tafeln zu, wie die ersten waren, und stand am Morgen früh auf und stieg auf den Berg Sinai, wie ihm der HERR geboten hatte, und nahm die zwei steinernen Tafeln in seine Hand. Da kam der HERR hernieder in einer Wolke, und Mose trat daselbst zu ihm und rief den Namen des HERRN an. Und der HERR ging vor seinem Angesicht vorüber, und er rief aus: HERR, HERR, Gott, barmherzig und gnädig und geduldig und von großer Gnade und Treue, der da Tausenden Gnade bewahrt und vergibt Missetat, Übertretung und Sünde, aber ungestraft lässt er niemand, sondern sucht die Missetat der Väter heim an Kindern und Kindeskindern bis ins dritte und vierte Glied! Und Mose neigte sich eilends zur Erde und betete an und sprach: Hab ich, HERR, Gnade vor deinen Augen gefunden, so gehe der Herr in unserer Mitte, denn es ist ein halsstarriges Volk; und vergib uns unsere Missetat und Sünde und lass uns dein Erbbesitz sein. Und der HERR sprach: Siehe, ich will einen Bund schließen: Vor deinem ganzen Volk will ich Wunder tun, wie sie nicht geschehen sind in allen Landen und unter allen Völkern, und das ganze Volk, in dessen Mitte du bist, soll des HERRN Werk sehen; denn wunderbar wird sein, was ich an dir tun werde.
Gnade sei mit euch und Friede von dem der da war, der da ist und der da kommt. Amen
Liebe Gemeinde,
ich glaub, fast alle von uns kennen den Heile-Reim „Heile, heile Gänschen, es wird bald wieder gut. Das Mäuschen hat ein Schwänzchen, es wird bald wieder gut. Heile, heile Mausespeck, in 100 Jahrn, ist alles weg.“
Mit diesem kleinen Lied, einem Heile-Tröste-Reim wurden wir selbst getröstet als Kinder von Mutter, Großmutter, da war einer, der hat gepustet, wenn wir uns das Knie aufgeschlagen haben, hat Kindertränen ernst genommen und hat für uns gesungen: „Heile, heile, es wird bald wieder gut.“ Wir könnten uns hier austauschen, im Internet kann man schauen, dieses Lied gibt es in vielen Variationen, manch einer singt vielleicht „Das Kätzchen hat ein Schwänzchen“, so singt man das im Rheinland. Wir haben als Kinder gesungen „Heile, heile Gänschen, es wird bald wieder gut. Das Mäuschen hat kein Schwänzchen, es wird bald wieder gut.“ Vielleicht ist die Geschichte der vertriebenen Ostdeutschen da mit hineingekommen, dass man das Lied verschärft hat.
Kindertrost und erwachsene Perspektive, vieles kommt nicht zurück, ist für immer verloren. Es braucht Jahrzehnte, ein Leben lang. 100 Jahre sind eine lange Zeit, dass alles wieder gut wird. Sich zu versöhnen über Generationen hinweg.
„Heile du mich Herr, so werde ich heil. Hilf du mir, so ist mir geholfen.“ Unser Wochenspruch nimmt uns mit hinein in eine feine Unterscheidung, dass obenhin nicht wahre Heilung ist, sondern: „Heile mich, so dass ich wirklich heil werde. Hilf mir so, dass mir wirklich geholfen ist.“ So wie das Kind geborgen im Arm der Mutter, beruhigend wird im gesungen wieder ins Vertrauen zurückfindet. So lass uns in dir Gott geborgen sein.
Ein Professor, bei dem ich in Göttingen studieren durfte, hat mir mitgegeben: „Gott gebe uns ab und an eine gnädige Katastrophe.“ Das ist ein paradox und passt eigentlich gar nicht zusammen, denn eine Katastrophe ist ein Punkt, wo es unumkehrbar ist, wo das Drama sich zur Tragödie verwandelt. Wo eine Bewegung, eine Umkehr nach unten, unwiderruflich stattfindet, das ist eine Katastrophe.
„Gott gebe uns ab und an eine gnädige Katastrophe“. Er lasse uns ab und an spüren, dass das Leben eine Herausforderung ist, eine Gratwanderung, dass es möglich ist in diesem Leben zu scheitern, dass es möglich ist, seine Chancen zu vertun, seine Zeit zu verpassen. Gott nehme uns an die Hand und leite uns, dass wir unsere Grenzen erkennen, dass unser Leben ein Anfang und auch ein Ende hat. Er lasse uns ab und an schauen hinein in die Ahnung eines Abgrunds. Und wandle das in eine gnädige Katastrophe, was heißt, du bekommst eine zweite Chance. Nicht unwiderruflich, nicht absolut, sondern nur eine Ahnung und eine neue Gelegenheit. Von einer gnädigen Katastrophe und einer zweiten Chance erzählen beide Texte, die wir gehört haben.
Ein Mann ist gelähmt, Luther übersetzt gichtbrüchig, eine Krankheit ist in sein Leben hinein gekommen und er kann sich kaum noch, nur unter größten Schmerzen, bewegen, er liegt darnieder. Es ist eine Katastrophe, er kann nicht mehr gehen, nicht mehr arbeiten, seine Familie nicht mehr ernähren, nicht mehr am Leben teilnehmen, er ist am Ende. Aber er hat Freunde, die zu ihm halten und in der Katastrophe an Gnade glauben. Die hoffen und hoffen auf Heilung. Sie tragen ihren Freund aufs Dach, öffnen das Dach und lassen ihn an Seilen herunter, was für eine Szene. Sie legen den Kranken Jesus vor die Füße. Einem anderen aufs Dach steigen. Dann ausgeliefert zwischen all den Menschen im überfüllten Raum. Und Jesus sagt: „Deine Sünden sind dir vergeben, mein Sohn.“ Dein Kummer, deine tausend Fragen „Warum“: „warum gerade ich und wieso, dein ganzes Hadern und Zweifeln. Du kannst dich in Gottes Gnade getröstet und geborgen finden. Deine Sünden sind dir vergeben, du findest dich wieder in Gott.“ Die Frommen springen auf und rebellieren: „So einfach geht das nicht.“ Und dann kommt die Szene: „Was ist leichter zu sagen? Deine Sünden sind dir vergeben oder nimm dein Bett, steh auf, geh nach Hause.“ Alle sagen: „Das gibt es nicht.“ Und es geht gar nicht. Aber was immer hinter dieser Krankheit steht, hinter dieser Lähmung? Jesus heilt den Kranken, von innen rührt er seine Seele und sein Herz an und der Kranke steht auf und geht.
Wer sagt, so etwas gibt es nicht, den lade ich ein mittwochs ins Pastorat zu kommen. Immer um 19 Uhr trifft sich dort die „Feldenkrais“-Gruppe. Nach Mosche Feldenkrais, eine Schule der Bewegung hat der begründet und man übt sich in der freien Bewegung. Man fragt nicht: „Warum hast du so eingezogene Schultern, warum ist dein Rücken gekrümmt und warum schmerzt dich dein Kreuz?“ Sondern es gibt ein Üben kleinster, feiner Bewegungen und ein Erstaunen bei fast jedem, egal wie du da hinkommst, was es mit dir macht, wenn du schaust, wie du deine Hand, deine Schulter, dein Knie, deinen Fuß bewegst mit Aufmerksamkeit. Und wer da teilnimmt, geht wieder aufrechter, heiterer und fast immer mit einem Lachen. Und mit einem anders gestimmten Geist. Und sie fragen nicht, wie kommt diese Verkrampfung, die Störung, diese Irritation in deinen Körper hinein? Was steckt dahinter, welcher Schreck, welcher Schock, welches Trauma? Was immer es ist, es ist nicht festgeschrieben. Es ist nicht zementiert. Es gibt eine lebendige Kraft, die aufrichtet, mithilft, mitwirkt und sich in uns freut, wenn wir zurück zu Freiheit und Bewegung finden. Und diese Bereitschaft ist gespeichert in unserem ganzen Körper, jede Seele erinnert, Schock und Schmerz und Trauma, sie erinnert aber auch und trägt in sich die Bereitschaft aufzuatmen, Licht zu speichern, Sauerstoff aufzunehmen, durchzuatmen. Jesus war ein Meister darin, in Menschen Blockaden zu lösen. Und es ist jedes Mal ein Wunder, wenn ein Mensch zurückfindet in seine kraftvolle Mitte – In Leichtigkeit und das Göttliche segnet dich in dir selbst.
Das Leben ist eine Gradwanderung und ist spannend. Und es ist das Leben und es gibt das lebendige Leben. Das wo du wirklich etwas wagst, wo du dich riskierst, wo du dich hervortraust. Was wird aus dir, wenn du dich ängstlich versteckst, wenn du dich nicht hervortraust? Wenn du dein Charisma nicht nutzt? Deine Chance, deine Zeit. Aber was wird aus dir, wenn du vielleicht alles auf eine Karte setzt, wenn du über Grenzen gehst? Du kannst dich verlieren und du kannst dich irren, du kannst Fehler machen. Und: Gibt es dann die Gnade einer zweiten Chance?
Der Gelähmte steht wieder auf. Und er steht anders im Leben. Er bekommt eine zweite Chance für aufrechten Gang und ein ganz neues Gefühl, wie kostbar das ist. Er wird niemals vergessen, dass er es nicht alleine geschafft hat, sondern dass das vier Freunde waren, die an ihn geglaubt haben und an Christus und an Gott. Nicht allein, auch mittwochabends ist es wichtig, sich in einer Gruppe zusammenzufinden, zu üben. Es gibt den Weg, den du ganz alleine gehst und gleichzeitig hat es immer eine gemeinschaftliche Seite. Wir brauchen uns als Menschen miteinander.
Da kommt die zweite Geschichte: Mose geht auf den Berg, es gibt eine zweite Chance. Mose ging auf den Berg und kommt zurück mit den steinernen Tafeln mit den zehn Geboten, 40 Tage war er weg, das Volk Israel fängt an und tanzt um goldene Kalb. Er kommt runter und zerschmettert die Tafel. Und die Zeit der Buße beginnt, eine Zeit der Ratlosigkeit. Was soll werden? Getrennt von Gott haben wir jetzt alles hier in dieser Wüste vertan. Beim Tanz ums goldene Kalb schauen wir meist, lassen wir uns meist auch vom Gold blenden und gucken auf Reichtum. Und Einfluss. Als ich darüber nachgedacht habe, musste ich an den Wahnsinn denken, mit dem Isis auf dem Vormarsch ist. Die Verblendung, an einen Gott zu glauben und in Wirklichkeit eigene Gefühle von Angst und Ohnmacht in vermeintliche Stärke, in Hass und Gewalt zu verwandeln. Wieviel Unglück, was für ein Wahnsinn über Generationen entsteht daraus? wo vielleicht in 100 Jahren nicht wieder alles gut wird. In so eine Situation kommt Mose zurück vom Berg und spricht: „Gott sagt euch, ich will unter euch wohnen, ich will bei euch bleiben, denn ich bin barmherzig und gnädig, geduldig, von großer Gnade und von ewiger Treue. Ich bewahre euch die Treue über tausende, vergebe Missetat, Übertretung und Sünde. Ich suche heim die Sünde der Väter an ihren Kindern und Kindeskindern bis ins dritte und vierte Glied. Und doch bin ich gnädig, geduldig und von großer Treue.“
Wenn wir ernst nehmen, was geschieht, wenn wir schauen, was wir von Ferne nur ahnen, der Vormarsch von Isis – und das ist nur ein Konfliktfeld auf dieser Erde – dann ahnen wir doch, dass über Generationen hinweg bis ins dritte und vierte Glied Menschen traumatisiert und verfeindet sein werden. Und dass es eine Frage ist: Woher wird die Kraft kommen, dass in 100 Jahren alles wieder gut ist?
In all diesem Wahnsinn gibt es auch dort, im mittleren Osten, Mütter, Großmütter auch Väter, die ihren Kindern in ihrer Sprache Trost und Heile-Reime vorsingen. „Heile, heile Gänschen, es wird bald wieder gut.“ Was scheinbar völlig sinnlos scheint, wird da aber geschehen. Dass Eltern in diesem Wahnsinn Schlaflieder, die sie selbst gelernt haben und Trost und Heile-Reime weitergeben an ihre Kinder. In all der eigenen existentiellen Entwurzelung und Verunsicherung geben sie weiter Hoffnung und Trost und Geborgenheit. Und das wird in dem Wahnsinn, der sie umgibt, nicht immer ihr Eigenes sein. Hoffnung und Trost und Geborgenheit schöpfst du aus etwas, das größer ist als du selbst. Gegen alle Vernunft, gegen alles was scheint, einfach weil die Kinder in den Schlaf finden müssen.
Wir finden uns hier wieder in einem Raum, der älter ist als 800 Jahre. St. Severin – der, der es ernst meint. Severus – der Strenge. Der uns nicht entlässt aus der Härte des Alltags und dem Ernst der Realität. Der aber mit uns lauscht und horcht, was hinter Horizonten auf uns wartet. Und du kannst anfangen mit ganz Elementarem, ganz Einfachem in all den Katastrophen, die in Stürmen und Gewalten über diese Insel hinweggegangen sind, haben Menschen vor mehr als 800 Jahren diese Kirche gebaut. Ein Unterfangen, was damals bestimmt unmöglich schien. Sie kannten nicht unsere Namen, wussten nicht, wer wir sein werden. Sie haben aber diese Kirche gebaut in der Hoffnung, dass wir es finden, Jahrhunderte später. Und dass sie etwas schaffen, zu dem wir Danke sagen. Danke, dass ihr das für uns vor so langer Zeit angefangen habt. Möge Gott uns segnen, dass auch wir zu den Menschen gehören, die heute etwas beginnen, was bleibt und sich bewährt. Was in sich trägt, den Segen für Tausende, heilt den Kummer und die Schuld, die nicht wegzureden ist. Gott segne uns mit seiner Gegenwart, dass wir uns wiederfinden in seinem Frieden höher als alle Vernunft, bewahrt in Jesus Christus, unserem Herrn. Amen.
Ev.-luth. Kirchengemeinde St. Severin
Pröstwai 20 • 25980 Sylt/Keitum
Telefon 04651/31713 • Fax 04651/35585 • kirchenbuero@st-severin.de
Predigttext: 2. Mose 34, 4-10: Und Mose hieb zwei steinerne Tafeln zu, wie die ersten waren, und stand am Morgen früh auf und stieg auf den Berg Sinai, wie ihm der HERR geboten hatte, und nahm die zwei steinernen Tafeln in seine Hand. Da kam der HERR hernieder in einer Wolke, und Mose trat daselbst zu ihm und rief den Namen des HERRN an. Und der HERR ging vor seinem Angesicht vorüber, und er rief aus: HERR, HERR, Gott, barmherzig und gnädig und geduldig und von großer Gnade und Treue, der da Tausenden Gnade bewahrt und vergibt Missetat, Übertretung und Sünde, aber ungestraft lässt er niemand, sondern sucht die Missetat der Väter heim an Kindern und Kindeskindern bis ins dritte und vierte Glied! Und Mose neigte sich eilends zur Erde und betete an und sprach: Hab ich, HERR, Gnade vor deinen Augen gefunden, so gehe der Herr in unserer Mitte, denn es ist ein halsstarriges Volk; und vergib uns unsere Missetat und Sünde und lass uns dein Erbbesitz sein. Und der HERR sprach: Siehe, ich will einen Bund schließen: Vor deinem ganzen Volk will ich Wunder tun, wie sie nicht geschehen sind in allen Landen und unter allen Völkern, und das ganze Volk, in dessen Mitte du bist, soll des HERRN Werk sehen; denn wunderbar wird sein, was ich an dir tun werde.
Gnade sei mit euch und Friede von dem der da war, der da ist und der da kommt. Amen
Liebe Gemeinde,
ich glaub, fast alle von uns kennen den Heile-Reim „Heile, heile Gänschen, es wird bald wieder gut. Das Mäuschen hat ein Schwänzchen, es wird bald wieder gut. Heile, heile Mausespeck, in 100 Jahrn, ist alles weg.“
Mit diesem kleinen Lied, einem Heile-Tröste-Reim wurden wir selbst getröstet als Kinder von Mutter, Großmutter, da war einer, der hat gepustet, wenn wir uns das Knie aufgeschlagen haben, hat Kindertränen ernst genommen und hat für uns gesungen: „Heile, heile, es wird bald wieder gut.“ Wir könnten uns hier austauschen, im Internet kann man schauen, dieses Lied gibt es in vielen Variationen, manch einer singt vielleicht „Das Kätzchen hat ein Schwänzchen“, so singt man das im Rheinland. Wir haben als Kinder gesungen „Heile, heile Gänschen, es wird bald wieder gut. Das Mäuschen hat kein Schwänzchen, es wird bald wieder gut.“ Vielleicht ist die Geschichte der vertriebenen Ostdeutschen da mit hineingekommen, dass man das Lied verschärft hat.
Kindertrost und erwachsene Perspektive, vieles kommt nicht zurück, ist für immer verloren. Es braucht Jahrzehnte, ein Leben lang. 100 Jahre sind eine lange Zeit, dass alles wieder gut wird. Sich zu versöhnen über Generationen hinweg.
„Heile du mich Herr, so werde ich heil. Hilf du mir, so ist mir geholfen.“ Unser Wochenspruch nimmt uns mit hinein in eine feine Unterscheidung, dass obenhin nicht wahre Heilung ist, sondern: „Heile mich, so dass ich wirklich heil werde. Hilf mir so, dass mir wirklich geholfen ist.“ So wie das Kind geborgen im Arm der Mutter, beruhigend wird im gesungen wieder ins Vertrauen zurückfindet. So lass uns in dir Gott geborgen sein.
Ein Professor, bei dem ich in Göttingen studieren durfte, hat mir mitgegeben: „Gott gebe uns ab und an eine gnädige Katastrophe.“ Das ist ein paradox und passt eigentlich gar nicht zusammen, denn eine Katastrophe ist ein Punkt, wo es unumkehrbar ist, wo das Drama sich zur Tragödie verwandelt. Wo eine Bewegung, eine Umkehr nach unten, unwiderruflich stattfindet, das ist eine Katastrophe.
„Gott gebe uns ab und an eine gnädige Katastrophe“. Er lasse uns ab und an spüren, dass das Leben eine Herausforderung ist, eine Gratwanderung, dass es möglich ist in diesem Leben zu scheitern, dass es möglich ist, seine Chancen zu vertun, seine Zeit zu verpassen. Gott nehme uns an die Hand und leite uns, dass wir unsere Grenzen erkennen, dass unser Leben ein Anfang und auch ein Ende hat. Er lasse uns ab und an schauen hinein in die Ahnung eines Abgrunds. Und wandle das in eine gnädige Katastrophe, was heißt, du bekommst eine zweite Chance. Nicht unwiderruflich, nicht absolut, sondern nur eine Ahnung und eine neue Gelegenheit. Von einer gnädigen Katastrophe und einer zweiten Chance erzählen beide Texte, die wir gehört haben.
Ein Mann ist gelähmt, Luther übersetzt gichtbrüchig, eine Krankheit ist in sein Leben hinein gekommen und er kann sich kaum noch, nur unter größten Schmerzen, bewegen, er liegt darnieder. Es ist eine Katastrophe, er kann nicht mehr gehen, nicht mehr arbeiten, seine Familie nicht mehr ernähren, nicht mehr am Leben teilnehmen, er ist am Ende. Aber er hat Freunde, die zu ihm halten und in der Katastrophe an Gnade glauben. Die hoffen und hoffen auf Heilung. Sie tragen ihren Freund aufs Dach, öffnen das Dach und lassen ihn an Seilen herunter, was für eine Szene. Sie legen den Kranken Jesus vor die Füße. Einem anderen aufs Dach steigen. Dann ausgeliefert zwischen all den Menschen im überfüllten Raum. Und Jesus sagt: „Deine Sünden sind dir vergeben, mein Sohn.“ Dein Kummer, deine tausend Fragen „Warum“: „warum gerade ich und wieso, dein ganzes Hadern und Zweifeln. Du kannst dich in Gottes Gnade getröstet und geborgen finden. Deine Sünden sind dir vergeben, du findest dich wieder in Gott.“ Die Frommen springen auf und rebellieren: „So einfach geht das nicht.“ Und dann kommt die Szene: „Was ist leichter zu sagen? Deine Sünden sind dir vergeben oder nimm dein Bett, steh auf, geh nach Hause.“ Alle sagen: „Das gibt es nicht.“ Und es geht gar nicht. Aber was immer hinter dieser Krankheit steht, hinter dieser Lähmung? Jesus heilt den Kranken, von innen rührt er seine Seele und sein Herz an und der Kranke steht auf und geht.
Wer sagt, so etwas gibt es nicht, den lade ich ein mittwochs ins Pastorat zu kommen. Immer um 19 Uhr trifft sich dort die „Feldenkrais“-Gruppe. Nach Mosche Feldenkrais, eine Schule der Bewegung hat der begründet und man übt sich in der freien Bewegung. Man fragt nicht: „Warum hast du so eingezogene Schultern, warum ist dein Rücken gekrümmt und warum schmerzt dich dein Kreuz?“ Sondern es gibt ein Üben kleinster, feiner Bewegungen und ein Erstaunen bei fast jedem, egal wie du da hinkommst, was es mit dir macht, wenn du schaust, wie du deine Hand, deine Schulter, dein Knie, deinen Fuß bewegst mit Aufmerksamkeit. Und wer da teilnimmt, geht wieder aufrechter, heiterer und fast immer mit einem Lachen. Und mit einem anders gestimmten Geist. Und sie fragen nicht, wie kommt diese Verkrampfung, die Störung, diese Irritation in deinen Körper hinein? Was steckt dahinter, welcher Schreck, welcher Schock, welches Trauma? Was immer es ist, es ist nicht festgeschrieben. Es ist nicht zementiert. Es gibt eine lebendige Kraft, die aufrichtet, mithilft, mitwirkt und sich in uns freut, wenn wir zurück zu Freiheit und Bewegung finden. Und diese Bereitschaft ist gespeichert in unserem ganzen Körper, jede Seele erinnert, Schock und Schmerz und Trauma, sie erinnert aber auch und trägt in sich die Bereitschaft aufzuatmen, Licht zu speichern, Sauerstoff aufzunehmen, durchzuatmen. Jesus war ein Meister darin, in Menschen Blockaden zu lösen. Und es ist jedes Mal ein Wunder, wenn ein Mensch zurückfindet in seine kraftvolle Mitte – In Leichtigkeit und das Göttliche segnet dich in dir selbst.
Das Leben ist eine Gradwanderung und ist spannend. Und es ist das Leben und es gibt das lebendige Leben. Das wo du wirklich etwas wagst, wo du dich riskierst, wo du dich hervortraust. Was wird aus dir, wenn du dich ängstlich versteckst, wenn du dich nicht hervortraust? Wenn du dein Charisma nicht nutzt? Deine Chance, deine Zeit. Aber was wird aus dir, wenn du vielleicht alles auf eine Karte setzt, wenn du über Grenzen gehst? Du kannst dich verlieren und du kannst dich irren, du kannst Fehler machen. Und: Gibt es dann die Gnade einer zweiten Chance?
Der Gelähmte steht wieder auf. Und er steht anders im Leben. Er bekommt eine zweite Chance für aufrechten Gang und ein ganz neues Gefühl, wie kostbar das ist. Er wird niemals vergessen, dass er es nicht alleine geschafft hat, sondern dass das vier Freunde waren, die an ihn geglaubt haben und an Christus und an Gott. Nicht allein, auch mittwochabends ist es wichtig, sich in einer Gruppe zusammenzufinden, zu üben. Es gibt den Weg, den du ganz alleine gehst und gleichzeitig hat es immer eine gemeinschaftliche Seite. Wir brauchen uns als Menschen miteinander.
Da kommt die zweite Geschichte: Mose geht auf den Berg, es gibt eine zweite Chance. Mose ging auf den Berg und kommt zurück mit den steinernen Tafeln mit den zehn Geboten, 40 Tage war er weg, das Volk Israel fängt an und tanzt um goldene Kalb. Er kommt runter und zerschmettert die Tafel. Und die Zeit der Buße beginnt, eine Zeit der Ratlosigkeit. Was soll werden? Getrennt von Gott haben wir jetzt alles hier in dieser Wüste vertan. Beim Tanz ums goldene Kalb schauen wir meist, lassen wir uns meist auch vom Gold blenden und gucken auf Reichtum. Und Einfluss. Als ich darüber nachgedacht habe, musste ich an den Wahnsinn denken, mit dem Isis auf dem Vormarsch ist. Die Verblendung, an einen Gott zu glauben und in Wirklichkeit eigene Gefühle von Angst und Ohnmacht in vermeintliche Stärke, in Hass und Gewalt zu verwandeln. Wieviel Unglück, was für ein Wahnsinn über Generationen entsteht daraus? wo vielleicht in 100 Jahren nicht wieder alles gut wird. In so eine Situation kommt Mose zurück vom Berg und spricht: „Gott sagt euch, ich will unter euch wohnen, ich will bei euch bleiben, denn ich bin barmherzig und gnädig, geduldig, von großer Gnade und von ewiger Treue. Ich bewahre euch die Treue über tausende, vergebe Missetat, Übertretung und Sünde. Ich suche heim die Sünde der Väter an ihren Kindern und Kindeskindern bis ins dritte und vierte Glied. Und doch bin ich gnädig, geduldig und von großer Treue.“
Wenn wir ernst nehmen, was geschieht, wenn wir schauen, was wir von Ferne nur ahnen, der Vormarsch von Isis – und das ist nur ein Konfliktfeld auf dieser Erde – dann ahnen wir doch, dass über Generationen hinweg bis ins dritte und vierte Glied Menschen traumatisiert und verfeindet sein werden. Und dass es eine Frage ist: Woher wird die Kraft kommen, dass in 100 Jahren alles wieder gut ist?
In all diesem Wahnsinn gibt es auch dort, im mittleren Osten, Mütter, Großmütter auch Väter, die ihren Kindern in ihrer Sprache Trost und Heile-Reime vorsingen. „Heile, heile Gänschen, es wird bald wieder gut.“ Was scheinbar völlig sinnlos scheint, wird da aber geschehen. Dass Eltern in diesem Wahnsinn Schlaflieder, die sie selbst gelernt haben und Trost und Heile-Reime weitergeben an ihre Kinder. In all der eigenen existentiellen Entwurzelung und Verunsicherung geben sie weiter Hoffnung und Trost und Geborgenheit. Und das wird in dem Wahnsinn, der sie umgibt, nicht immer ihr Eigenes sein. Hoffnung und Trost und Geborgenheit schöpfst du aus etwas, das größer ist als du selbst. Gegen alle Vernunft, gegen alles was scheint, einfach weil die Kinder in den Schlaf finden müssen.
Wir finden uns hier wieder in einem Raum, der älter ist als 800 Jahre. St. Severin – der, der es ernst meint. Severus – der Strenge. Der uns nicht entlässt aus der Härte des Alltags und dem Ernst der Realität. Der aber mit uns lauscht und horcht, was hinter Horizonten auf uns wartet. Und du kannst anfangen mit ganz Elementarem, ganz Einfachem in all den Katastrophen, die in Stürmen und Gewalten über diese Insel hinweggegangen sind, haben Menschen vor mehr als 800 Jahren diese Kirche gebaut. Ein Unterfangen, was damals bestimmt unmöglich schien. Sie kannten nicht unsere Namen, wussten nicht, wer wir sein werden. Sie haben aber diese Kirche gebaut in der Hoffnung, dass wir es finden, Jahrhunderte später. Und dass sie etwas schaffen, zu dem wir Danke sagen. Danke, dass ihr das für uns vor so langer Zeit angefangen habt. Möge Gott uns segnen, dass auch wir zu den Menschen gehören, die heute etwas beginnen, was bleibt und sich bewährt. Was in sich trägt, den Segen für Tausende, heilt den Kummer und die Schuld, die nicht wegzureden ist. Gott segne uns mit seiner Gegenwart, dass wir uns wiederfinden in seinem Frieden höher als alle Vernunft, bewahrt in Jesus Christus, unserem Herrn. Amen.
Ev.-luth. Kirchengemeinde St. Severin
Pröstwai 20 • 25980 Sylt/Keitum
Telefon 04651/31713 • Fax 04651/35585 • kirchenbuero@st-severin.de