Predigt Pastorin Zingel

Predigttext:  Matthäus 15, 21- 28

Und Jesus ging weg von dort und zog sich zurück in die Gegend von Tyrus und Sidon. Und siehe, eine kanaanäische Frau kam aus diesem Gebiet und schrie: Ach Herr, du Sohn Davids, erbarme dich meiner! Meine Tochter wird von einem bösen Geist übel geplagt. Und er antwortete ihr kein Wort. Da traten seine Jünger zu ihm, baten ihn und sprachen: Laß sie doch gehen, denn sie schreit uns nach.

Er antwortete aber und sprach: Ich bin nur gesandt zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel. Sie aber kam und fiel vor ihm nieder und sprach: Herr, hilf mir! Aber er antwortete und sprach: Es ist nicht recht, dass man den Kindern ihr Brot nehme und werfe es vor die Hunde. Sie sprach: Ja, Herr; aber doch fressen die Hunde von den Brosamen, die vom Tisch ihrer Herren fallen. Da antwortete Jesus und sprach zu ihr: Frau, dein Glaube ist groß. Dir geschehe, wie du willst! Und ihre Tochter wurde gesund zu derselben Stunde.

Liebe Gemeinde,

„Mum und Dad waren noch Kinder, als sie heirateten. Er war 18, sie war 16 und ich war drei.“ So beginnt die Biographie „Lady sings the Blues“ von Billy Holiday. Später haben Biographen nachgerechnet: die beiden jungen Leute waren zwei Jahre älter und sie haben auch niemals geheiratet, aber Billy Holiday fängt an, ihre eigene Geschichte zu erzählen. Die Geschichte der vielleicht berühmtesten Jazz-Sängerin aller Zeiten. Wer kennt sie nicht? In jeder Bar, jedem Restaurant wird sie gespielt als Hintergrundmusik. Und meist hören die Menschen bis heute gar nicht hin, wenn sie singt, wie sie um ihr Leben singt. Bis heute wird ihre Musik aufbewahrt in Jazz-Sammlungen, in meist gutbürgerlichen Häusern und dabei lebte diese Frau, Billy Holiday, ein Leben, das für alle wohlanständige Bürgerlichkeit unvorstellbar war. Vor allem weil es die wohlanständige Bürgerlichkeit war, die ihr das Leben zur Hölle machte. Ihre Mutter arbeitete schon mit 14 als Hausmädchen bei einer weißen Familie. Als dann herauskam, dass sie ein Kind erwartete, wurde sie sofort hinausgeworfen und stand da ohne jede Absicherung und ohne jeden Rückhalt. Damit ihr selbst bei der Geburt ihres Kindes geholfen würde, fing sie an und ist in ein Krankenhaus gegangen und hat dort auf der Geburtenstation ohne Entlohnung geputzt bis einen Tag vor der Niederkunft, um ihr Kind auf die Welt zu bringen. In Wirklichkeit haben Mum und Dad niemals geheiratet. In Wirklichkeit blieb die Mutter mit ihr allein und tat alles, um das Kind durchzubringen: Sie putzte, ging anschaffen und war selten zu hause. Als sie am Heiligabend, am 24. Dezember 1926 von der Arbeit nach Hause kam, war Billy gerade elf Jahre alt. Da sah ihre Mutter mit an wie der Nachbar das Kind vergewaltigte. Der Nachbar wurde verhaftet und Billy kam in das katholische Erziehungsheim „Das Haus zum guten Hirten“. Dass christliche Nächstenliebe in diesem Haus nicht zu Hause war, musste Billy ein Jahr über sich ergehen lassen. Als sie zurückkam zu ihrer Mutter, arbeitete diese bereits in einem Bordell. Und sie fing an, als Botenmädchen kleine Einkäufe zu erledigen und Botschaften zu überbringen. In diesem Etablissement hörte sie das erste Mal Musik von Louis Armstrong und Bessie Smith. Und da saß sie, das Kind, neben dem Grammophon und saß da und alles um sie herum versank und in dieser Musik löste sich die Welt, die um sie herum war, auf und sie tauchte ein in eine andere Welt.  In eine Welt von Klang und Harmonie, von Blues und Jazz, von einem Schmerz und einer Wahrheit, die dieses Kind mit 13 Jahren schon verstand. Das erste Mal wurde sie genau mit 13 Jahren bei einer Razzia in diesem Bordell verhaftet. Ein Kind im Gefängnis. Mit 14 begann sie selbst als Prostituierte zu arbeiten und begann gleichzeitig mit dem Singen. Öffentlich. Sie sang um ihr Leben und um ein kleines Stück Würde, denn im schummrigen Licht auf der Bühne im Bordell zu singen, war allemal besser als sich für fünf Dollar an einen Freier verkaufen zu müssen. Aber mehr noch sang sie von einer Liebe und von einer Würde, die kein Mensch antasten kann. Und sie sang auf immer größeren Bühnen. „Man hat mir gesagt“, sagt Billy Holiday, „Man hat mir gesagt, dass niemand auf der Welt das Wort ‚Hunger‘ so singt, wie ich. Genauso das Wort ‚Liebe‘. Vielleicht liegt das daran, dass ich weiß, was diese Worte beinhalten. Vielleicht liegt es daran, dass ich stolz genug bin mich erinnern zu wollen.“ Und Billy Holiday hat sich erinnert ihr ganzes Leben lang. Sie wurde Billy Holiday, die berühmte Lady Day, die „Lady des Tages“, die erste farbige Sängerin, die mit Musikern zusammen auf einer Bühne stand. Während die Männer im Foyer als Stars begrüßt und gefeiert wurden, musste Billy Holiday in den Lastenaufzug und den Hintereingang benutzen. Es war nicht erlaubt, gemeinsam die gleiche Tür zu benutzen. Sie saß nicht in den Garderobenräumen, sondern irgendwo im Abstellraum, in einem dunklen, kleinen abgelegenen Eckchen. Da wartete sie auf den Auftritt, um sich dann, wenn die Scheinwerfer angingen, in Lady Day zu verwandeln. Ihr Markenzeichen war eine weiße Gardenie, die sie sich dann immer ins Haar steckte. Bildschön. Und sobald sie anfing zu singen, waren alle bewegt. Sie sang vor den Weißen – es war klar, ein Farbiger durfte diese Bars oder Bühnen nicht betreten. Sie sang für Menschen, für die Rassismus genauso selbstverständlich war, wie eine Frau auszubeuten und ihre Würde nicht zu respektieren. Sie sang von einer Wahrheit, die diese verlogenen Gesellschaft auf die feinste Weise im Jazz, im Blues, voller Anmut und Charisma mit einer Wahrheit konfrontierte, mit der eigenen Wahrheit verzauberte und für einen Moment – immerhin für einen Moment – verunsicherte. Sie sang von einer Wahrheit, die nichts und niemand zerstören kann.

Ich erzähle euch das alles, ich erinnere Sie an diese Frau, auch wenn Sie vielleicht gerade erst zum ersten Mal ihren Namen gehört haben, ich erinnere Sie daran, weil Billy Holiday aufs Engste verwandt ist mit der kanaanäischen Frau, von der wir gehört haben im Evangelium. Diese Frau fleht Jesus an ihr zu helfen: „Meine Tochter ist krank, meine Tochter braucht deine Hilfe.“ Und Jesus tut, als wenn er sie nicht hört. Es ist eine unerhörte Geschichte. Denn Jesus, unser Heiland voller Erbarmen, voller Liebe, stellt sich taub. Er steht da befangen in einem engen Weltbild: „Ich bin nur gesandt zu den verlorenen Schafen im Hause Israels und du gehörst nicht dazu.“

Dass Jesus einen begrenzten Horizont gehabt haben soll, dass er eine kanaanäische Frau missachtet, nur weil sie nicht zum Volk Israel gehört, das passt eigentlich nicht zu der Vorstellung, mit der wir ihn sehen. Ihn, den Heiland, einen alle Menschen liebenden Christus. Aber eins ist sicher: Diese Geschichte von der kanaanäischen Frau ist eine authentische Geschichte. Niemand hätte sich im Nachhinein Jahre später getraut, so eine Geschichte zu erfinden. Und sprechen wir es aus: Niemand hätte sich getraut, Jesus, den Heiland der Welt, als hartherzigen, religiös begründeten Rassisten hinzustellen. „Du bist eine Kanaanäerin und ich bin nur gesandt zu den verlorenen Schafen im hause Israels. Es ist nicht recht, dass man den Kindern das Brot wegnimmt und werfe es den Hunden vor.“ Jesus macht aus der Frau einen Hund, einen Hund unter dem Tisch. Er sagt, du bist für mich kein Mensch, du bist für mich wie ein Tier.

Billy Holiday musste den Lastenaufzug benutzen, nicht bestimmt für Menschen, sondern für Lieferungen. Sie wurde wie ein Gepäckstück nach oben in die oberen Stockwerke befördert. Sie wird behandelt wie ein Stück Dreck, nicht wie ein Mensch, und gleichzeitig gefeiert. Alle sind ergriffen, wenn sie auf der Bühne steht und den Blues singt, von der Liebe und von ihren Grenzen. Sie hat in einem Lied gesungen „I’ve been your slave, but before I’ll be your dog, I’ll be buried in my grave.“ – Ich bin deine Sklavin geworden, aber bevor ich dein Hund bin, will ich lieber begraben sein. Da merkt man, dass diese Geschichten wirklich zusammen gehören. „I’ve been your slave, but before I’ll be your dog, I’ll be buried in my grave.“ Das sind die Grenzen der Liebe, wo es nicht weitergeht, die Grenzen des Menschlichen. Und gleichzeitig, wenn wir uns mal herantrauen an diese Grenze, erzählt das Evangelium von Menschen, die sogar da noch weiter gegangen sind. „Was soll ich den Hunden das Brot unter den Tisch geben?“, fragt Jesus die Frau. Und sie sagt zu ihm: „Aber die Hunde bekommen doch die Brosamen, die vom Tisch herabfallen. Es ist ein unglaublicher Moment, denn die Frau ist verwandt mit der Mutter von Billy Holiday und viel zu viel anderen Frauen, die sich selbst verkaufen, um ihre Kinder ernähren zu können. Sie ist verwandt mit Billy Holiday, die alles aus Liebe gegeben hat. Und sie geht hinein in diese entwürdigende Metapher, macht sich die zu eigen und dreht sie um gegen Jesus. „Du, Jesus, brauchst mich nicht als Mensch wahrzunehmen. Was du in mir siehst, ist mir gleich. Denn es geht nicht um mich, sondern um mein Kind. Um meine Tochter. Und wenn du sie gesund machen kannst, wenn du sie gesund machst, obwohl ich für dich, obwohl du in mir einen Hund siehst, dann bin ich zufrieden mit den Brosamen, die von deinem Tisch fallen.“

Es ist ein unerhörter Moment, denn in diesem Moment wird Jesus durch Liebe überwunden. Erinnert euch vielleicht: Zwei haben das versucht, Jesus zu überwinden – zwei. Der Teufel mit seinen Versuchungen – „Komm, ich geb dir alles, komm mach mit. Komm ein Himmelreich auf Erden, alle Macht der Welt. Ich geb sie dir.“ Und Jesus sagt: „Weiche von mir, Satan.“ Dann gibt es Petrus, der es auch versucht – aus Liebe. Weil er nicht wollte, dass Jesus sich hinwagt nach Jerusalem in vollem Wissen, dass er dort sterben wird. „Komm, lass uns da nicht hingehen, Jesus. Du wirst sterben, komm lass es, lass es.“ Und Jesus sagt zu Petrus: „Weiche von mir, Satan.“ Die beiden haben es versucht. Petrus und der Teufel. Sie haben es nicht geschafft. Diese Frau hat es vermocht, dass Jesus innehält, umdenkt und seinen Weg umlenkt. Für einen anderen Menschen. Denn so etwas war ihm nicht begegnet. Ein Mensch, eine Frau, die nicht an sich selbst denkt, sondern alles gibt für einen anderen Menschen. Es geht nicht um mich, es geht um mein Kind. Und mit dieser Liebe überwindet die Frau Jesus. Er lenkt ein.

Diese Frau lässt Jesus hineinreifen in ein Erbarmen, das größer ist als was er sich vorher vorstellte – nicht nur das Volk Israel. Viel größer als menschliches Maß, weit über alle Grenzen hinaus und alles gewinnt. „Frau, dein Glaube ist groß, dir geschehe wie du willst.“ Und ihre Tochter wurde gesund zu derselben Stunde. In der Frau begegnet Jesus die gleiche Liebe, die ihn selbst zuletzt ans Kreuz bringen wird. Eine Liebe, die nicht für sich selbst, sondern für einen andere oder für andere alles gibt. Dass Jesus Mensch wurde, Christus, geboren ward, dass er lernen musste, was Liebe und Erbarmen ist und dass er lernen konnte, hören wir an dieser Stelle. Das Kind in der Krippe ist nicht gleichzeitig der Gekreuzigte. Das Kind in der Krippe musste laufen lernen, reden lernen, musste verstehen lernen, musste wachsen, kam hinein als ein Mensch, der sich entwickeln muss. Und weist uns darin und damit gerade den Weg, dass auch wir berufen sind zu lernen, uns zu entwickeln und zurechtbringen zu lassen. Es gibt eine Liebe, die ist stärker als der Tod.

Ich bin sicher, diese Frau ist Jesus auf der anderen Seite, als er durch den Tod hindurchgegangen ist, auf der anderen Seite begegnet. Und die beiden werden später zusammen Billy Holiday begrüßt haben: „Willkommen unter den Seligen des Himmels.“ In dieser Welt ist Billy Holiday wie Jesus an der Unfähigkeit ihrer Umwelt echte Liebe wahrzunehmen und anzunehmen zerbrochen. Sie starb mit 44 Jahren und erst vier Jahre später wird Martin Luther King seine berühmte Rede halten: „I have a dream“. Billy Holiday hat das Ende der Rassentrennung nicht erlebt. Als sie starb, standen um ihr Bett Polizisten herum, um sie, falls sie doch nicht stirbt und sich erholt, wegen Drogenbesitzes zu verhaften. Kein Mensch hat ihr im Sterben die Hand gehalten. Aber ganz gewiss haben alle Mächte und alle Kräfte des Himmels ihr hinüber geholfen dorthin, wo die Liebe sich vollkommen bewährt – die Liebe stärker als der Tod – und der Friede Gottes, höher als alle Vernunft uns mit allem, was wir sind – mit Herz und allen Sinnen – bewahrt in Christus Jesus, unserm Herrn.

Amen.

Ev.-luth. Kirchengemeinde St. Severin
Pröstwai 20 • 25980 Sylt/Keitum
Telefon 04651/31713 • Fax 04651/35585 • kirchenbuero@st-severin.de

Predigt Pastorin Zingel

Predigttext:  Matthäus 15, 21- 28

Und Jesus ging weg von dort und zog sich zurück in die Gegend von Tyrus und Sidon. Und siehe, eine kanaanäische Frau kam aus diesem Gebiet und schrie: Ach Herr, du Sohn Davids, erbarme dich meiner! Meine Tochter wird von einem bösen Geist übel geplagt. Und er antwortete ihr kein Wort. Da traten seine Jünger zu ihm, baten ihn und sprachen: Laß sie doch gehen, denn sie schreit uns nach.

Er antwortete aber und sprach: Ich bin nur gesandt zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel. Sie aber kam und fiel vor ihm nieder und sprach: Herr, hilf mir! Aber er antwortete und sprach: Es ist nicht recht, dass man den Kindern ihr Brot nehme und werfe es vor die Hunde. Sie sprach: Ja, Herr; aber doch fressen die Hunde von den Brosamen, die vom Tisch ihrer Herren fallen. Da antwortete Jesus und sprach zu ihr: Frau, dein Glaube ist groß. Dir geschehe, wie du willst! Und ihre Tochter wurde gesund zu derselben Stunde.

Liebe Gemeinde,

„Mum und Dad waren noch Kinder, als sie heirateten. Er war 18, sie war 16 und ich war drei.“ So beginnt die Biographie „Lady sings the Blues“ von Billy Holiday. Später haben Biographen nachgerechnet: die beiden jungen Leute waren zwei Jahre älter und sie haben auch niemals geheiratet, aber Billy Holiday fängt an, ihre eigene Geschichte zu erzählen. Die Geschichte der vielleicht berühmtesten Jazz-Sängerin aller Zeiten. Wer kennt sie nicht? In jeder Bar, jedem Restaurant wird sie gespielt als Hintergrundmusik. Und meist hören die Menschen bis heute gar nicht hin, wenn sie singt, wie sie um ihr Leben singt. Bis heute wird ihre Musik aufbewahrt in Jazz-Sammlungen, in meist gutbürgerlichen Häusern und dabei lebte diese Frau, Billy Holiday, ein Leben, das für alle wohlanständige Bürgerlichkeit unvorstellbar war. Vor allem weil es die wohlanständige Bürgerlichkeit war, die ihr das Leben zur Hölle machte. Ihre Mutter arbeitete schon mit 14 als Hausmädchen bei einer weißen Familie. Als dann herauskam, dass sie ein Kind erwartete, wurde sie sofort hinausgeworfen und stand da ohne jede Absicherung und ohne jeden Rückhalt. Damit ihr selbst bei der Geburt ihres Kindes geholfen würde, fing sie an und ist in ein Krankenhaus gegangen und hat dort auf der Geburtenstation ohne Entlohnung geputzt bis einen Tag vor der Niederkunft, um ihr Kind auf die Welt zu bringen. In Wirklichkeit haben Mum und Dad niemals geheiratet. In Wirklichkeit blieb die Mutter mit ihr allein und tat alles, um das Kind durchzubringen: Sie putzte, ging anschaffen und war selten zu hause. Als sie am Heiligabend, am 24. Dezember 1926 von der Arbeit nach Hause kam, war Billy gerade elf Jahre alt. Da sah ihre Mutter mit an wie der Nachbar das Kind vergewaltigte. Der Nachbar wurde verhaftet und Billy kam in das katholische Erziehungsheim „Das Haus zum guten Hirten“. Dass christliche Nächstenliebe in diesem Haus nicht zu Hause war, musste Billy ein Jahr über sich ergehen lassen. Als sie zurückkam zu ihrer Mutter, arbeitete diese bereits in einem Bordell. Und sie fing an, als Botenmädchen kleine Einkäufe zu erledigen und Botschaften zu überbringen. In diesem Etablissement hörte sie das erste Mal Musik von Louis Armstrong und Bessie Smith. Und da saß sie, das Kind, neben dem Grammophon und saß da und alles um sie herum versank und in dieser Musik löste sich die Welt, die um sie herum war, auf und sie tauchte ein in eine andere Welt.  In eine Welt von Klang und Harmonie, von Blues und Jazz, von einem Schmerz und einer Wahrheit, die dieses Kind mit 13 Jahren schon verstand. Das erste Mal wurde sie genau mit 13 Jahren bei einer Razzia in diesem Bordell verhaftet. Ein Kind im Gefängnis. Mit 14 begann sie selbst als Prostituierte zu arbeiten und begann gleichzeitig mit dem Singen. Öffentlich. Sie sang um ihr Leben und um ein kleines Stück Würde, denn im schummrigen Licht auf der Bühne im Bordell zu singen, war allemal besser als sich für fünf Dollar an einen Freier verkaufen zu müssen. Aber mehr noch sang sie von einer Liebe und von einer Würde, die kein Mensch antasten kann. Und sie sang auf immer größeren Bühnen. „Man hat mir gesagt“, sagt Billy Holiday, „Man hat mir gesagt, dass niemand auf der Welt das Wort ‚Hunger‘ so singt, wie ich. Genauso das Wort ‚Liebe‘. Vielleicht liegt das daran, dass ich weiß, was diese Worte beinhalten. Vielleicht liegt es daran, dass ich stolz genug bin mich erinnern zu wollen.“ Und Billy Holiday hat sich erinnert ihr ganzes Leben lang. Sie wurde Billy Holiday, die berühmte Lady Day, die „Lady des Tages“, die erste farbige Sängerin, die mit Musikern zusammen auf einer Bühne stand. Während die Männer im Foyer als Stars begrüßt und gefeiert wurden, musste Billy Holiday in den Lastenaufzug und den Hintereingang benutzen. Es war nicht erlaubt, gemeinsam die gleiche Tür zu benutzen. Sie saß nicht in den Garderobenräumen, sondern irgendwo im Abstellraum, in einem dunklen, kleinen abgelegenen Eckchen. Da wartete sie auf den Auftritt, um sich dann, wenn die Scheinwerfer angingen, in Lady Day zu verwandeln. Ihr Markenzeichen war eine weiße Gardenie, die sie sich dann immer ins Haar steckte. Bildschön. Und sobald sie anfing zu singen, waren alle bewegt. Sie sang vor den Weißen – es war klar, ein Farbiger durfte diese Bars oder Bühnen nicht betreten. Sie sang für Menschen, für die Rassismus genauso selbstverständlich war, wie eine Frau auszubeuten und ihre Würde nicht zu respektieren. Sie sang von einer Wahrheit, die diese verlogenen Gesellschaft auf die feinste Weise im Jazz, im Blues, voller Anmut und Charisma mit einer Wahrheit konfrontierte, mit der eigenen Wahrheit verzauberte und für einen Moment – immerhin für einen Moment – verunsicherte. Sie sang von einer Wahrheit, die nichts und niemand zerstören kann.

Ich erzähle euch das alles, ich erinnere Sie an diese Frau, auch wenn Sie vielleicht gerade erst zum ersten Mal ihren Namen gehört haben, ich erinnere Sie daran, weil Billy Holiday aufs Engste verwandt ist mit der kanaanäischen Frau, von der wir gehört haben im Evangelium. Diese Frau fleht Jesus an ihr zu helfen: „Meine Tochter ist krank, meine Tochter braucht deine Hilfe.“ Und Jesus tut, als wenn er sie nicht hört. Es ist eine unerhörte Geschichte. Denn Jesus, unser Heiland voller Erbarmen, voller Liebe, stellt sich taub. Er steht da befangen in einem engen Weltbild: „Ich bin nur gesandt zu den verlorenen Schafen im Hause Israels und du gehörst nicht dazu.“

Dass Jesus einen begrenzten Horizont gehabt haben soll, dass er eine kanaanäische Frau missachtet, nur weil sie nicht zum Volk Israel gehört, das passt eigentlich nicht zu der Vorstellung, mit der wir ihn sehen. Ihn, den Heiland, einen alle Menschen liebenden Christus. Aber eins ist sicher: Diese Geschichte von der kanaanäischen Frau ist eine authentische Geschichte. Niemand hätte sich im Nachhinein Jahre später getraut, so eine Geschichte zu erfinden. Und sprechen wir es aus: Niemand hätte sich getraut, Jesus, den Heiland der Welt, als hartherzigen, religiös begründeten Rassisten hinzustellen. „Du bist eine Kanaanäerin und ich bin nur gesandt zu den verlorenen Schafen im hause Israels. Es ist nicht recht, dass man den Kindern das Brot wegnimmt und werfe es den Hunden vor.“ Jesus macht aus der Frau einen Hund, einen Hund unter dem Tisch. Er sagt, du bist für mich kein Mensch, du bist für mich wie ein Tier.

Billy Holiday musste den Lastenaufzug benutzen, nicht bestimmt für Menschen, sondern für Lieferungen. Sie wurde wie ein Gepäckstück nach oben in die oberen Stockwerke befördert. Sie wird behandelt wie ein Stück Dreck, nicht wie ein Mensch, und gleichzeitig gefeiert. Alle sind ergriffen, wenn sie auf der Bühne steht und den Blues singt, von der Liebe und von ihren Grenzen. Sie hat in einem Lied gesungen „I’ve been your slave, but before I’ll be your dog, I’ll be buried in my grave.“ – Ich bin deine Sklavin geworden, aber bevor ich dein Hund bin, will ich lieber begraben sein. Da merkt man, dass diese Geschichten wirklich zusammen gehören. „I’ve been your slave, but before I’ll be your dog, I’ll be buried in my grave.“ Das sind die Grenzen der Liebe, wo es nicht weitergeht, die Grenzen des Menschlichen. Und gleichzeitig, wenn wir uns mal herantrauen an diese Grenze, erzählt das Evangelium von Menschen, die sogar da noch weiter gegangen sind. „Was soll ich den Hunden das Brot unter den Tisch geben?“, fragt Jesus die Frau. Und sie sagt zu ihm: „Aber die Hunde bekommen doch die Brosamen, die vom Tisch herabfallen. Es ist ein unglaublicher Moment, denn die Frau ist verwandt mit der Mutter von Billy Holiday und viel zu viel anderen Frauen, die sich selbst verkaufen, um ihre Kinder ernähren zu können. Sie ist verwandt mit Billy Holiday, die alles aus Liebe gegeben hat. Und sie geht hinein in diese entwürdigende Metapher, macht sich die zu eigen und dreht sie um gegen Jesus. „Du, Jesus, brauchst mich nicht als Mensch wahrzunehmen. Was du in mir siehst, ist mir gleich. Denn es geht nicht um mich, sondern um mein Kind. Um meine Tochter. Und wenn du sie gesund machen kannst, wenn du sie gesund machst, obwohl ich für dich, obwohl du in mir einen Hund siehst, dann bin ich zufrieden mit den Brosamen, die von deinem Tisch fallen.“

Es ist ein unerhörter Moment, denn in diesem Moment wird Jesus durch Liebe überwunden. Erinnert euch vielleicht: Zwei haben das versucht, Jesus zu überwinden – zwei. Der Teufel mit seinen Versuchungen – „Komm, ich geb dir alles, komm mach mit. Komm ein Himmelreich auf Erden, alle Macht der Welt. Ich geb sie dir.“ Und Jesus sagt: „Weiche von mir, Satan.“ Dann gibt es Petrus, der es auch versucht – aus Liebe. Weil er nicht wollte, dass Jesus sich hinwagt nach Jerusalem in vollem Wissen, dass er dort sterben wird. „Komm, lass uns da nicht hingehen, Jesus. Du wirst sterben, komm lass es, lass es.“ Und Jesus sagt zu Petrus: „Weiche von mir, Satan.“ Die beiden haben es versucht. Petrus und der Teufel. Sie haben es nicht geschafft. Diese Frau hat es vermocht, dass Jesus innehält, umdenkt und seinen Weg umlenkt. Für einen anderen Menschen. Denn so etwas war ihm nicht begegnet. Ein Mensch, eine Frau, die nicht an sich selbst denkt, sondern alles gibt für einen anderen Menschen. Es geht nicht um mich, es geht um mein Kind. Und mit dieser Liebe überwindet die Frau Jesus. Er lenkt ein.

Diese Frau lässt Jesus hineinreifen in ein Erbarmen, das größer ist als was er sich vorher vorstellte – nicht nur das Volk Israel. Viel größer als menschliches Maß, weit über alle Grenzen hinaus und alles gewinnt. „Frau, dein Glaube ist groß, dir geschehe wie du willst.“ Und ihre Tochter wurde gesund zu derselben Stunde. In der Frau begegnet Jesus die gleiche Liebe, die ihn selbst zuletzt ans Kreuz bringen wird. Eine Liebe, die nicht für sich selbst, sondern für einen andere oder für andere alles gibt. Dass Jesus Mensch wurde, Christus, geboren ward, dass er lernen musste, was Liebe und Erbarmen ist und dass er lernen konnte, hören wir an dieser Stelle. Das Kind in der Krippe ist nicht gleichzeitig der Gekreuzigte. Das Kind in der Krippe musste laufen lernen, reden lernen, musste verstehen lernen, musste wachsen, kam hinein als ein Mensch, der sich entwickeln muss. Und weist uns darin und damit gerade den Weg, dass auch wir berufen sind zu lernen, uns zu entwickeln und zurechtbringen zu lassen. Es gibt eine Liebe, die ist stärker als der Tod.

Ich bin sicher, diese Frau ist Jesus auf der anderen Seite, als er durch den Tod hindurchgegangen ist, auf der anderen Seite begegnet. Und die beiden werden später zusammen Billy Holiday begrüßt haben: „Willkommen unter den Seligen des Himmels.“ In dieser Welt ist Billy Holiday wie Jesus an der Unfähigkeit ihrer Umwelt echte Liebe wahrzunehmen und anzunehmen zerbrochen. Sie starb mit 44 Jahren und erst vier Jahre später wird Martin Luther King seine berühmte Rede halten: „I have a dream“. Billy Holiday hat das Ende der Rassentrennung nicht erlebt. Als sie starb, standen um ihr Bett Polizisten herum, um sie, falls sie doch nicht stirbt und sich erholt, wegen Drogenbesitzes zu verhaften. Kein Mensch hat ihr im Sterben die Hand gehalten. Aber ganz gewiss haben alle Mächte und alle Kräfte des Himmels ihr hinüber geholfen dorthin, wo die Liebe sich vollkommen bewährt – die Liebe stärker als der Tod – und der Friede Gottes, höher als alle Vernunft uns mit allem, was wir sind – mit Herz und allen Sinnen – bewahrt in Christus Jesus, unserm Herrn.

Amen.

Ev.-luth. Kirchengemeinde St. Severin
Pröstwai 20 • 25980 Sylt/Keitum
Telefon 04651/31713 • Fax 04651/35585 • kirchenbuero@st-severin.de