Pastorin Susanne Zingel, 20. August 2023

Gottesdienst zusammen mit der ACHSE (Allianz chronischer seltener Erkrankungen)

Lesungen: 1. Korinther 12 und Markus 2, 1-12

Gnade sei mit Euch und Friede von dem, der da war, der da ist und der da kommt.

 

Liebe Gemeinde, liebe Kinder,
die magische Muschel hat sich geöffnet. Wer hineinschauen möchte, der kann jetzt nach vorn kommen und mitmachen. In der Muschel sind Ausmalbilder für ein Zebra. Ihr könnt es so bunt anmalen wie das Zebra vorn auf dem Gottesdienstzettel.

Das bunte Zebra ist in diesem Jahr das Symboltier der ACHSE, und die Ausmalbilder hier vorn gehören zu einem Malwettbewerb. Das Zebra wurde mit der Idee ausgesucht, dass jeder Streifen des Zebras für eine seltene chronische Erkrankung steht. Und das sind viele und es werden immer mehr. Als die Kampagne entwickelt wurde, sprach man von 7.000 chronischen Erkrankungen, mittlerweile sind es 8.000, und alle Betroffenen fühlen sich so einsam, wie ein buntes Zebra auf einer Wiese mit lauter Haflingern. Da ist erst einmal weit und breit niemand, der das gleiche Schicksal teilt. Darum fühlen sie sich anders, einsam und allein.

Wir haben hier auf Sylter Wiesen kein buntes Zebra. Wir haben Pulli. Alle Sylter kennen Pulli. Pulli ist ein kleines weißes Lamm mit schwarzem Fell rund um Brust und Vorderbeine. Es sieht aus, als hätte es einen schwarzen Pullover an. Als erste Bilder von Pulli auftauchten, war die Ruhe auf dem Deich dahin. Oft von Hunden begleitet und mit Fotoapparaten ausgerüstet gehen Touristen auf Safari und hoffen, Pulli zu treffen.
„Du bist allein, du bist anders“, aber die Menschen kommen und schauen dich an. Sie staunen und gehen weiter. Ihr Verhalten macht dich noch mehr zu einem Außenseiter.
Dabei könnte das bunte Zebra genauso wie Pulli auf dem Deich ein gutes Bild dafür sein, dass die Natur Kapriolen schlägt. Das tut sie, seit es Leben gibt.
Wir wären alle nicht hier, und es würden immer noch Einzeller in einem großen Ozean schwimmen, wenn die Natur nicht Kapriolen schlagen würde. Sie startet Millionen, Milliarden Versuche, und daraus ist eine genetische Vielfalt entstanden, die jeden von uns zu einem ganz einmaligen Wesen macht. In der Bibel heißt es: „Du bist das Ebenbild Gottes“. Du hast die Gabe zu sehen, zu staunen und auch zu verstehen. Wir haben aber auch die Eigenschaft, alles zu sortieren, einzuordnen und für normal oder unnormal zu erklären. Das machen wir so: Wir stellen uns selbst in die Mitte, ziehen um uns herum einen Kreis und alles, was in diesen Kreis hineinpasst, das ist normal. Jeder macht das, und daraus bildet sich eine normative Gesellschaft, in der sortiert wird, wer ist drinnen, wer ist draußen.

Auf jeden Fall sind wir damit weit davon entfernt, was das Leben wirklich ist. Denn das Leben ist Fülle und Vielfalt. Es ist fragil, es ist verletzlich. Wir wären nicht hier ohne das große Experiment des Lebens, sich zu verwandeln und immer Neues hervorzubringen. Leiden gehört dabei zum Leben dazu, denn Verwandlung und Transformation sind immer schmerzvoll.
Es gibt Menschen, die sind davon so betroffen, dass alle anderen sich nicht vorstellen können, wie ein Leben sich so meistern lässt. Es bleibt für die meisten nur der kurze Schreckgedanke: „Oh, wenn das mein Kind wäre!“

Wir haben gestern bei dem Benefizabend der ACHSE mit Alina eine junge Frau kennengelernt, die zu diesen Kindern gehörte. Sie wäre jetzt auch hier gern im Gottesdienst gewesen und hätte zu uns gesprochen. Aber leider ist sie krank geworden. Sie hat Fieber.
Alina leidet unter einer seltenen Erkrankung, deren Namen so lang ist, dass ich ihn nicht wiedergeben kann. Aber ich kann Euch erzählen, worum es geht. Das Bindegewebe ihrer Haut hält in den einzelnen Schichten nicht zusammen, und selbst bei nur dem leichtesten Druck lösen sich die Hautschichten voneinander. Wenn sie sich nur ein wenig stößt, gibt es eine offene Wunde. So ist sie auf die Welt gekommen. Sie hat uns gestern erzählt, wie die Ärzte gar nicht wussten, was das für eine Krankheit ist. Sie hat erzählt, was die Ärzte gemacht haben, wie sie Behandlungen begonnen haben, die zu unglaublichen Schmerzen geführt haben. Nach drei Monaten haben sie eine so grauenhafte Therapie vorgeschlagen, dass die Eltern aufgestanden sind und mit ihrem Kind einen weiten Weg nach Berlin in die Charité unternommen haben. Und auch dort gab es Ärzte, die nicht glauben wollten, dass es wirklich wahr ist, dass dieses kleine Geschöpf nur watteweich wie auf einer Wolke angefasst und gebettet werden darf.

Bis heute ist es so: Stell dir vor, du kannst nicht ungeschützt an den Strand gehen, denn ein Sandkorn könnte dich verletzen. Den Eltern wurde nach der Geburt gesagt, ihr Kind habe eine Lebenserwartung von drei Wochen. Solche Botschaften bekommen Eltern: „Drei Wochen wird dein Kind leben“. Aber kein Vater und keine Mutter akzeptiert das. Sie werden kämpfen, sie werden alles geben, und so kann Alina erzählen: Sie hat Abitur gemacht. Sie hat ein eigenes Auto und sie wird in wenigen Wochen ihr Studium aufnehmen, Psychologie. Denn sie möchte ergründen und verstehen, was in Menschen vor sich geht, was sie stark macht und emphatisch.

Fünfmal wurde als Kind ihr Antrag auf einen Aufenthalt hier in der Rehaklinik auf Sylt abgelehnt. Sie wollte auf die Insel kommen wegen der guten Luft und wegen der dermatologischen Fachklinik mit besten Medizinern. Fünfmal stellten ihre Eltern einen Antrag, fünfmal wurde er abgelehnt. Ich habe das gestern so verstanden, dass die zuständige Rentenversicherung argumentierte, dies Kind wird niemals arbeiten, darum sind wir nicht zuständig. Alinas Eltern haben es fünfmal geschafft. Und Alina wiederholt immer wieder, wie dankbar sie allen Beteiligten ist, vorweg ihrer Mutter, die nicht arbeiten konnte, weil sie sich rund um die Uhr um Alina und ihre Geschwister gekümmert hat, aber genauso ihrem Vater, der Rechtsanwalt ist. Und ein Rechtsanwalt kann anderen Menschen aufs Dach steigen.

Im Evangelium haben wir doch gerade von den vier Freunden gehört, die für ihren kranken Freund das Dach aufdecken, ihn auf einer Trage hinunterlassen und Jesus vor die Füße legen. Zur Zeit Jesu waren Krankheiten noch unerforschter, und viele sahen in ihnen eine Strafe Gottes. Heute wissen wir so viel mehr darüber, leben aber immer noch in einer Welt, in der Kranke ausgegrenzt werden. Aber wir leben auch in einer Welt, wo voller Einsatz von den Freunden auch heute noch Wunder bewirken kann.

Alinas Eltern haben nicht aufgegeben. Unglaublich ist, dass sie heute in der Rehaklinik auf Sylt arbeitet. Ja, und wisst Ihr, was noch passiert ist? Die Rentenkasse ist gekommen und hat mit ihr einen Film gedreht, in dem sie als Erfolgsmodell vorgestellt wird. Und sie hat dabei mitgespielt, denn sie hat Witz, sie hat Humor. Sie ist durch ein finsteres Tal der Schmerzen gegangen und taucht auf mit einem wachen Geist, der Hürden und Widerstände überwindet. Bei all den schönen Dingen, die es gestern Abend gab, waren sich alle einig: Diesen wachen Geist, den brauchen wir nötig, mit Mut und einer festen Verbundenheit. In dem Evangelium sind es nicht der Vater und nicht die Mutter, es sind vier Freunde, die den Gelähmten durch das Dach hinunterlassen. Jeder kann einem anderen zum helfenden Freund werden.
Freundschaft kommt von freundlich, frei und verwandt. Diese Worte haben einen gemeinsamen Ursprung: Frei, verwandt und freundlich. Und das sind wir hier in der Kirche, getauft mit heiligem Geist und Wasser, in allen Konfessionen geschenkt mit einem mutigen Geist, mit Herz und Seele. Das alles hat Gott uns gegeben in einer Welt der Fülle, der Vielfalt, der Abgründe, der Verletzlichkeiten und der Zumutungen.

Wenn es für Alinas Eltern eine Herausforderung war, die Anträge zu stellen, dann ist es fast unmöglich, wenn du nicht lesen und schreiben kannst. Es gibt betroffene Familie, die nicht deutsch sprechen, die keine komplizierten Formulare lesen können. Aber ihr Kind braucht Hilfe – wie sollen sie es dann schaffen, Anträge zu stellen? Und das findet in einem reichen Land statt, in einem Wohlstand, um den uns die ganze Welt beneidet. Aber anstatt Missstände zu beklagen, kann jeder mithelfen es zu ändern. Es ist für jeden von uns möglich, mitzuhelfen, dass wir eine Gemeinschaft bilden, die einander hilft und Wissen teilt.

Seltene chronische Erkrankungen werden so definiert, dass nur fünf von 10.000 Menschen davon betroffen sind. Oder andersherum ein Betroffener lebt allein unter 20.000 Menschen.
In jeder deutschen Kleinstadt lebt ein Mensch mit einer seltenen Erkrankung. Aber es gibt 8.000 solche seltenen Krankheiten, und das wiederum führt dazu, dass in Deutschland vier Millionen Menschen von dem gleichen Schicksal wie Alina betroffen sind. Diese, meist als Kinder Erkrankten, sind nicht allein: Dazu gehören Vater, Mutter, Geschwister, Großeltern und Freunde. Und schon gehören zu jedem Kind mindestens zehn Menschen. Schaut, wie schnell wir dabei sind, dass fast jeder von uns direkt oder indirekt mit Betroffenen in Kontakt steht. Seltene Erkrankungen sind nicht die Ausnahme, sondern etwas, was alle treffen kann.

Und ich denke an die Coronazeit, die wir alle miteinander überstanden haben. Viele sind da hindurchgegangen, haben sich zwei, dreimal impfen lassen, haben das gut vertragen, haben gelächelt, sind einmal erkrankt, haben dabei Homeoffice gemacht – und das war‘s. Andere sind in den Vorruhestand gekommen – Long COVID.

Das Fatigue-Syndrom scheint unerklärlich, wen es warum trifft. Eine Chorschwester aus unserem Kirchenchor ist mittlerweile in einem Pflegeheim untergebracht. Wir hoffen alle, dass sie sich erholt, dass sie zurückkommt. Aber von einem Tag auf den anderen kann es dich treffen und du bist als eine junge Frau im Pflegeheim. Aber gerade durch die Ausnahme können Forscher und wir alle etwas für das Ganze lernen.

Es geht nicht nur darum, Diagnosen und Therapien zu entwickeln – es geht darum, ein neues Denken einzuüben: Dann geht es nicht nur um den wirtschaftlichen Erfolg eines einzigen Medikaments, das alle brauchen. Es geht darum zu verstehen, warum es einzelne trifft, und jede Antwort darauf hilft uns allen weiter, weil es uns das Geheimnis des Lebens tiefer verstehen lässt.

Die meisten von uns wissen, dass Corona oft mit Herzproblemen verbunden ist. Die Zusammenhänge sind nicht geklärt. Aber ich weiß von einer Familie, da sagte ein befreundeter Arzt nach einer Coronaerkrankung zu dem Patienten: „Das kommt mir komisch vor, seltsam“. Und weil er ein Freund war, sagte er: „Komm zu mir, das untersuchen wir noch einmal genau“. Die Untersuchung war aufwendig, das Ergebnis unvermutet – der Patient litt an einer genetisch bedingten Herzkrankheit. Aber mit der Diagnose konnte man ihm helfen, ihn retten, und nicht nur ihn, sondern auch andere Verwandte. Zusammen erinnerten sie sich: „Ja die Großmutter starb früh, und die Tante auch“. Die ganze Familiengeschichte erschien in einem neuen Licht. Jetzt sind die Kindeskinder schon in Behandlung, weil ein Arzt ein Freund war, verwandt, freundlich und zugewandt.

Ein Gottesdienst wie dieser ist eine Verabredung, als Freunde miteinander weiterzugehen und uns gegenseitig zu unterstützen. Es ist der Entschluss, selbst auszusteigen, wenn wir merken, dass andere Menschen ausgeschlossen werden und allein bleiben. Es heißt, dass wir ernstnehmen, wenn zu uns gesagt wird: „Ihr seid ein Leib. Wenn ein Glied leidet, dann leiden alle.“

Und das ist kein Glaubenssatz, sondern das ist wirklich so. Darum ist „Zusammenhalt zu stärken“ der richtige Weg. Darum verbünden sich WissenschaftlerInnen auf allen Ebenen. Es ist klug, so zu leben. Es ist dumm, es anders zu machen und nur auf eigene Erfolge zu schauen. Es beginnt immer neu, wo wir einfach da sind und die Geschichte eines anderen anhören. So wie wir das gestern mit Alina erlebt haben.

So behüte uns Gott mit seinem Segen und seinem Frieden, der höher ist als alle Vernunft mit allem, was wir sind in Jesus Christus.

Amen

 

Ev.-luth. Kirchengemeinde St. Severin
Pröstwai 20 • 25980 Sylt/Keitum
Telefon 04651/31713 • Fax 04651/35585 • kirchenbuero@st-severin.de

Pastorin Susanne Zingel, 20. August 2023

Gottesdienst zusammen mit der ACHSE (Allianz chronischer seltener Erkrankungen)

Lesungen: 1. Korinther 12 und Markus 2, 1-12

Gnade sei mit Euch und Friede von dem, der da war, der da ist und der da kommt.

 

Liebe Gemeinde, liebe Kinder,
die magische Muschel hat sich geöffnet. Wer hineinschauen möchte, der kann jetzt nach vorn kommen und mitmachen. In der Muschel sind Ausmalbilder für ein Zebra. Ihr könnt es so bunt anmalen wie das Zebra vorn auf dem Gottesdienstzettel.

Das bunte Zebra ist in diesem Jahr das Symboltier der ACHSE, und die Ausmalbilder hier vorn gehören zu einem Malwettbewerb. Das Zebra wurde mit der Idee ausgesucht, dass jeder Streifen des Zebras für eine seltene chronische Erkrankung steht. Und das sind viele und es werden immer mehr. Als die Kampagne entwickelt wurde, sprach man von 7.000 chronischen Erkrankungen, mittlerweile sind es 8.000, und alle Betroffenen fühlen sich so einsam, wie ein buntes Zebra auf einer Wiese mit lauter Haflingern. Da ist erst einmal weit und breit niemand, der das gleiche Schicksal teilt. Darum fühlen sie sich anders, einsam und allein.

Wir haben hier auf Sylter Wiesen kein buntes Zebra. Wir haben Pulli. Alle Sylter kennen Pulli. Pulli ist ein kleines weißes Lamm mit schwarzem Fell rund um Brust und Vorderbeine. Es sieht aus, als hätte es einen schwarzen Pullover an. Als erste Bilder von Pulli auftauchten, war die Ruhe auf dem Deich dahin. Oft von Hunden begleitet und mit Fotoapparaten ausgerüstet gehen Touristen auf Safari und hoffen, Pulli zu treffen.
„Du bist allein, du bist anders“, aber die Menschen kommen und schauen dich an. Sie staunen und gehen weiter. Ihr Verhalten macht dich noch mehr zu einem Außenseiter.
Dabei könnte das bunte Zebra genauso wie Pulli auf dem Deich ein gutes Bild dafür sein, dass die Natur Kapriolen schlägt. Das tut sie, seit es Leben gibt.
Wir wären alle nicht hier, und es würden immer noch Einzeller in einem großen Ozean schwimmen, wenn die Natur nicht Kapriolen schlagen würde. Sie startet Millionen, Milliarden Versuche, und daraus ist eine genetische Vielfalt entstanden, die jeden von uns zu einem ganz einmaligen Wesen macht. In der Bibel heißt es: „Du bist das Ebenbild Gottes“. Du hast die Gabe zu sehen, zu staunen und auch zu verstehen. Wir haben aber auch die Eigenschaft, alles zu sortieren, einzuordnen und für normal oder unnormal zu erklären. Das machen wir so: Wir stellen uns selbst in die Mitte, ziehen um uns herum einen Kreis und alles, was in diesen Kreis hineinpasst, das ist normal. Jeder macht das, und daraus bildet sich eine normative Gesellschaft, in der sortiert wird, wer ist drinnen, wer ist draußen.

Auf jeden Fall sind wir damit weit davon entfernt, was das Leben wirklich ist. Denn das Leben ist Fülle und Vielfalt. Es ist fragil, es ist verletzlich. Wir wären nicht hier ohne das große Experiment des Lebens, sich zu verwandeln und immer Neues hervorzubringen. Leiden gehört dabei zum Leben dazu, denn Verwandlung und Transformation sind immer schmerzvoll.
Es gibt Menschen, die sind davon so betroffen, dass alle anderen sich nicht vorstellen können, wie ein Leben sich so meistern lässt. Es bleibt für die meisten nur der kurze Schreckgedanke: „Oh, wenn das mein Kind wäre!“

Wir haben gestern bei dem Benefizabend der ACHSE mit Alina eine junge Frau kennengelernt, die zu diesen Kindern gehörte. Sie wäre jetzt auch hier gern im Gottesdienst gewesen und hätte zu uns gesprochen. Aber leider ist sie krank geworden. Sie hat Fieber.
Alina leidet unter einer seltenen Erkrankung, deren Namen so lang ist, dass ich ihn nicht wiedergeben kann. Aber ich kann Euch erzählen, worum es geht. Das Bindegewebe ihrer Haut hält in den einzelnen Schichten nicht zusammen, und selbst bei nur dem leichtesten Druck lösen sich die Hautschichten voneinander. Wenn sie sich nur ein wenig stößt, gibt es eine offene Wunde. So ist sie auf die Welt gekommen. Sie hat uns gestern erzählt, wie die Ärzte gar nicht wussten, was das für eine Krankheit ist. Sie hat erzählt, was die Ärzte gemacht haben, wie sie Behandlungen begonnen haben, die zu unglaublichen Schmerzen geführt haben. Nach drei Monaten haben sie eine so grauenhafte Therapie vorgeschlagen, dass die Eltern aufgestanden sind und mit ihrem Kind einen weiten Weg nach Berlin in die Charité unternommen haben. Und auch dort gab es Ärzte, die nicht glauben wollten, dass es wirklich wahr ist, dass dieses kleine Geschöpf nur watteweich wie auf einer Wolke angefasst und gebettet werden darf.

Bis heute ist es so: Stell dir vor, du kannst nicht ungeschützt an den Strand gehen, denn ein Sandkorn könnte dich verletzen. Den Eltern wurde nach der Geburt gesagt, ihr Kind habe eine Lebenserwartung von drei Wochen. Solche Botschaften bekommen Eltern: „Drei Wochen wird dein Kind leben“. Aber kein Vater und keine Mutter akzeptiert das. Sie werden kämpfen, sie werden alles geben, und so kann Alina erzählen: Sie hat Abitur gemacht. Sie hat ein eigenes Auto und sie wird in wenigen Wochen ihr Studium aufnehmen, Psychologie. Denn sie möchte ergründen und verstehen, was in Menschen vor sich geht, was sie stark macht und emphatisch.

Fünfmal wurde als Kind ihr Antrag auf einen Aufenthalt hier in der Rehaklinik auf Sylt abgelehnt. Sie wollte auf die Insel kommen wegen der guten Luft und wegen der dermatologischen Fachklinik mit besten Medizinern. Fünfmal stellten ihre Eltern einen Antrag, fünfmal wurde er abgelehnt. Ich habe das gestern so verstanden, dass die zuständige Rentenversicherung argumentierte, dies Kind wird niemals arbeiten, darum sind wir nicht zuständig. Alinas Eltern haben es fünfmal geschafft. Und Alina wiederholt immer wieder, wie dankbar sie allen Beteiligten ist, vorweg ihrer Mutter, die nicht arbeiten konnte, weil sie sich rund um die Uhr um Alina und ihre Geschwister gekümmert hat, aber genauso ihrem Vater, der Rechtsanwalt ist. Und ein Rechtsanwalt kann anderen Menschen aufs Dach steigen.

Im Evangelium haben wir doch gerade von den vier Freunden gehört, die für ihren kranken Freund das Dach aufdecken, ihn auf einer Trage hinunterlassen und Jesus vor die Füße legen. Zur Zeit Jesu waren Krankheiten noch unerforschter, und viele sahen in ihnen eine Strafe Gottes. Heute wissen wir so viel mehr darüber, leben aber immer noch in einer Welt, in der Kranke ausgegrenzt werden. Aber wir leben auch in einer Welt, wo voller Einsatz von den Freunden auch heute noch Wunder bewirken kann.

Alinas Eltern haben nicht aufgegeben. Unglaublich ist, dass sie heute in der Rehaklinik auf Sylt arbeitet. Ja, und wisst Ihr, was noch passiert ist? Die Rentenkasse ist gekommen und hat mit ihr einen Film gedreht, in dem sie als Erfolgsmodell vorgestellt wird. Und sie hat dabei mitgespielt, denn sie hat Witz, sie hat Humor. Sie ist durch ein finsteres Tal der Schmerzen gegangen und taucht auf mit einem wachen Geist, der Hürden und Widerstände überwindet. Bei all den schönen Dingen, die es gestern Abend gab, waren sich alle einig: Diesen wachen Geist, den brauchen wir nötig, mit Mut und einer festen Verbundenheit. In dem Evangelium sind es nicht der Vater und nicht die Mutter, es sind vier Freunde, die den Gelähmten durch das Dach hinunterlassen. Jeder kann einem anderen zum helfenden Freund werden.
Freundschaft kommt von freundlich, frei und verwandt. Diese Worte haben einen gemeinsamen Ursprung: Frei, verwandt und freundlich. Und das sind wir hier in der Kirche, getauft mit heiligem Geist und Wasser, in allen Konfessionen geschenkt mit einem mutigen Geist, mit Herz und Seele. Das alles hat Gott uns gegeben in einer Welt der Fülle, der Vielfalt, der Abgründe, der Verletzlichkeiten und der Zumutungen.

Wenn es für Alinas Eltern eine Herausforderung war, die Anträge zu stellen, dann ist es fast unmöglich, wenn du nicht lesen und schreiben kannst. Es gibt betroffene Familie, die nicht deutsch sprechen, die keine komplizierten Formulare lesen können. Aber ihr Kind braucht Hilfe – wie sollen sie es dann schaffen, Anträge zu stellen? Und das findet in einem reichen Land statt, in einem Wohlstand, um den uns die ganze Welt beneidet. Aber anstatt Missstände zu beklagen, kann jeder mithelfen es zu ändern. Es ist für jeden von uns möglich, mitzuhelfen, dass wir eine Gemeinschaft bilden, die einander hilft und Wissen teilt.

Seltene chronische Erkrankungen werden so definiert, dass nur fünf von 10.000 Menschen davon betroffen sind. Oder andersherum ein Betroffener lebt allein unter 20.000 Menschen.
In jeder deutschen Kleinstadt lebt ein Mensch mit einer seltenen Erkrankung. Aber es gibt 8.000 solche seltenen Krankheiten, und das wiederum führt dazu, dass in Deutschland vier Millionen Menschen von dem gleichen Schicksal wie Alina betroffen sind. Diese, meist als Kinder Erkrankten, sind nicht allein: Dazu gehören Vater, Mutter, Geschwister, Großeltern und Freunde. Und schon gehören zu jedem Kind mindestens zehn Menschen. Schaut, wie schnell wir dabei sind, dass fast jeder von uns direkt oder indirekt mit Betroffenen in Kontakt steht. Seltene Erkrankungen sind nicht die Ausnahme, sondern etwas, was alle treffen kann.

Und ich denke an die Coronazeit, die wir alle miteinander überstanden haben. Viele sind da hindurchgegangen, haben sich zwei, dreimal impfen lassen, haben das gut vertragen, haben gelächelt, sind einmal erkrankt, haben dabei Homeoffice gemacht – und das war‘s. Andere sind in den Vorruhestand gekommen – Long COVID.

Das Fatigue-Syndrom scheint unerklärlich, wen es warum trifft. Eine Chorschwester aus unserem Kirchenchor ist mittlerweile in einem Pflegeheim untergebracht. Wir hoffen alle, dass sie sich erholt, dass sie zurückkommt. Aber von einem Tag auf den anderen kann es dich treffen und du bist als eine junge Frau im Pflegeheim. Aber gerade durch die Ausnahme können Forscher und wir alle etwas für das Ganze lernen.

Es geht nicht nur darum, Diagnosen und Therapien zu entwickeln – es geht darum, ein neues Denken einzuüben: Dann geht es nicht nur um den wirtschaftlichen Erfolg eines einzigen Medikaments, das alle brauchen. Es geht darum zu verstehen, warum es einzelne trifft, und jede Antwort darauf hilft uns allen weiter, weil es uns das Geheimnis des Lebens tiefer verstehen lässt.

Die meisten von uns wissen, dass Corona oft mit Herzproblemen verbunden ist. Die Zusammenhänge sind nicht geklärt. Aber ich weiß von einer Familie, da sagte ein befreundeter Arzt nach einer Coronaerkrankung zu dem Patienten: „Das kommt mir komisch vor, seltsam“. Und weil er ein Freund war, sagte er: „Komm zu mir, das untersuchen wir noch einmal genau“. Die Untersuchung war aufwendig, das Ergebnis unvermutet – der Patient litt an einer genetisch bedingten Herzkrankheit. Aber mit der Diagnose konnte man ihm helfen, ihn retten, und nicht nur ihn, sondern auch andere Verwandte. Zusammen erinnerten sie sich: „Ja die Großmutter starb früh, und die Tante auch“. Die ganze Familiengeschichte erschien in einem neuen Licht. Jetzt sind die Kindeskinder schon in Behandlung, weil ein Arzt ein Freund war, verwandt, freundlich und zugewandt.

Ein Gottesdienst wie dieser ist eine Verabredung, als Freunde miteinander weiterzugehen und uns gegenseitig zu unterstützen. Es ist der Entschluss, selbst auszusteigen, wenn wir merken, dass andere Menschen ausgeschlossen werden und allein bleiben. Es heißt, dass wir ernstnehmen, wenn zu uns gesagt wird: „Ihr seid ein Leib. Wenn ein Glied leidet, dann leiden alle.“

Und das ist kein Glaubenssatz, sondern das ist wirklich so. Darum ist „Zusammenhalt zu stärken“ der richtige Weg. Darum verbünden sich WissenschaftlerInnen auf allen Ebenen. Es ist klug, so zu leben. Es ist dumm, es anders zu machen und nur auf eigene Erfolge zu schauen. Es beginnt immer neu, wo wir einfach da sind und die Geschichte eines anderen anhören. So wie wir das gestern mit Alina erlebt haben.

So behüte uns Gott mit seinem Segen und seinem Frieden, der höher ist als alle Vernunft mit allem, was wir sind in Jesus Christus.

Amen

 

Ev.-luth. Kirchengemeinde St. Severin
Pröstwai 20 • 25980 Sylt/Keitum
Telefon 04651/31713 • Fax 04651/35585 • kirchenbuero@st-severin.de